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  • AutorenbildJules Cachecoeur

Auch Gulasch wird aus Mut gemacht.

Mein Kreislauf war am Ende. So mussten sich dehydrierte Kanarienvögel fühlen. Der nächste Späti hatte kalte Getränke mit Koffeingehalt – wohlbemerkt in Dosen, ohne Pfand. Wir gingen nun schon seit Stunden durch die brennende Sonne, aber waren wie in einem Rausch von Neugierde.

Unsere Augen saugten alles auf, was sie erhaschen konnten, denn die Straßen waren voll von wundersamen und uns unbekannten Entdeckungen. Straßen wie aus vergangenen Zeiten, von der Geschichte gezeichnet. Schlafen konnten wir auch zu Hause, dachte ich und schaute N. von der Seite an. Sicher war ihm noch heißer, aber er ließ es sich nicht anmerken. Wer von uns hätte im Februar gedacht, dass uns ein Jahrhundertsommer bevorstünde? Vielleicht wäre unsere Entscheidung dann doch auf Kopenhagen gefallen?! Stattdessen: Budapest. Und ich bemerkte, wie herausfordernd es geworden war, sich außerhalb der deutschsprachigen Komfortzone herauszubegeben, in der man den Euro und Aldi hatte. Das heißt, neben Lidl. Und auch DM, Rossmann, ja sogar Praktiker, KIK, Interspar und OBI hatten sich in und um die Hauptstadt Ungarns niedergelassen. Selbst das Sparkassen-Logo war dem deutschen zum Verwechseln ähnlich. Ich fühlte mich wie in einem Paralleluniversum im shabby chic-Look. Es gab lediglich eine schönere Architektur und einen größeren Fluss. Mich überkam so eine Mischung aus Gefühlen, die Paris, Wien und auch bestimmte Ecken von Berlin  bei mir wachriefen.

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Blick von der Kettenbrücke hinüber nach Buda


Die Stadt stand wie ein Kollos aus monumentalen hell erleuchtenden Bauwerken, deren pompöse Konturen im Wasser friedlich und weich verlaufen, inmitten eines Talkessels. Ihre Zwillingsformation erhielt sie durch die Teilung der Donau: Buda auf dem Berg und Pest im Tal. Beide Teile wurden von sieben Brücken, teilweise Artefakte architektonischer Meisterleistung, miteinander vereint. Die Menschen waren passiv bis gemäßigt unfreundlich und schlossen überpünktlich die Verkaufsstände, Restaurants und Museen. Kein Wunder: Die Stadt ertrinkt in teilweise peinlich klischeehaften Touristengruppen aus der ganzen Welt, Junggesell*innenabschiede und vollbeladenen Backpackern, die sich gierig und hungrig zwischen den Sehenswürdigkeiten gegenseitig hin und herschoben. Noch ein Langosch hier, noch eine Gulaschsuppe da; die Hitze ertrugen alle bereitwillig, um das Land der Paprika kennenzulernen. Da hielt man es eben auch aus, das ein oder andere Mal Opfer von Nepp zu werden und in die üblichen Touri-Fallen zu tappen. Zum Beispiel der Besuch der prunkvollen Sakralbauten oder der Museen. Und auch das ein oder andere Erlebnis, Beteiligte*r einer Massenabfertigung zu sein, hielt die meisten nicht davon ab, billige Souvenirs zu kaufen oder die teilweise schräge Darstellung der Landesgeschichte in einigen der touristischen Einrichtungen präsentiert zu bekommen. Es war wie ein Gelage, und das bei gefühlt 40 Grad. „Willkommen im wilden Osten“, tönte N. Ein Verweis darauf, wie vielfältig Osteuropa – jenseits der ehemaligen Grenze – war.

Geschichten von Gut und Böse in Budapest

Einmal mit der Bergseilbahn fahren, das war ein Traum, den sich N. erfüllte. Man erhaschte den Komfort, den bestimmte Gesellschaftsschichten zur Kaiserzeit genossen hatten. Ich hatte mir vorgenommen wenigstens „Hallo“ und „Danke“ und im besten Fall „Auf Wiedersehen“ in der Landessprache sagen zu können und trotzdem unterschieden wir uns nicht wirklich von den vielen anderen, die hier die hot spots der Stadt abklapperten.

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Überreste einer Hochzeitszeremonie auf dem Vorplatz der Szent István-bazilika


Dass mir das politische Flair eines Landes, auch in Anbetracht des Pulses der Zeit, auf dieser einwöchigen Städtereise sauer aufstoßen würde, hätte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht gedacht. Das kam erst ein paar Tage später. Nachdem wir die üblichen touristischen Attraktionen, wie beispielsweise die Matthiaskirche, den Fischmarkt, das Parlament, die Kettenbrücke und die Große Markthalle, wider der Menschenmassen erfolgreich erkundet hatten, konnten wir uns auf die Suche nach dem originären, dem einheimischen Budapest machen. Hierbei stießen wir immer wieder auf einen großen Teil jüdischer Geschichte in Europa, was uns sehr neugierig machte.

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Ausschnitt aus “Grand Budapest Hotel” (USA 2014)| Quelle: giphy.com


Allerdings schlich sich auch ein komisches Gefühl ein, das ich erst nicht ganz greifen konnte, da es wie eine Art Kribbeln begann und zu einer größeren emotionalen Betroffenheit heranwuchs.

„Budapest, warte mal, ist das nicht die Hauptstadt von…ähm…?“ (Frage meines komischen Mitbewohners A.)

Das Gefühl zu der Erkenntnis, gefilterte beziehungsweise politisch geformte Informationen über (geschichtliche) Sachverhalte zu erhalten, legte sich wie ein weicher grauer Schleier auf mein Gemüt. Ich fragte mich: Wie kann ich mir auf dieser bröckeligen Basis ein Bild von einer Stadt mit all den Elementen ihrer soziokulturell-historischen Peripherie machen? Zuerst einmal fehlten mir aber neben all dem nötigen geschichtlichen Vorwissen die Worte. Vor dem vielfach kritisierten Denkmal zur deutschen Besetzung Budapests aus dem Jahr 2014 unter Beauftragung der rechtskonservativen Regierung kam das erste Mal dieses merkwürdige Schweigen zwischen N. und mir auf. Auslöser war die Darstellung dieses Ereignisses in Form eines schwarzen Reichsadlers, der es im Angriffsflug auf den Erzengel Gabriel, fungierend als Personifikation Ungarns, abgesehen hatte. Die politische Inszenierung Ungarns als Opfer des deutschen Nazismus, so hieß es seitens vieler Kritiker*innen aus verschiedenen Lagern zu diesem Denkmal. N. und ich blieben nebeneinander stehen vor einer in Hüfthöhe aufgezogenen Absperrung aus Stacheldraht unmittelbar vor der Skulpturenformation. Wortlos.

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Übliche Häuserfassaden in den Nebenstraßen Pests


Überall Lichter und Blumen in einem Meer von schwarz-weiß-Portrait-Fotos, die an den Zaun angebracht waren. Sätze wie „Meine Eltern wurden von ungarischen Nazis ermordet“, „Meine Schwester und ich, bevor die ermordet wurde“ oder „Ich habe gesehen, wie sie ungarischen Nazis meine Familie erschossen.“ standen da auf den angebrachten Flugblättern geschrieben. Dazu Aufklärungsschreiben in allen Sprachen. „Es handelt sich um eine Geschichtsfälschung“, lesen wir. Eine Landnahme der Narration ungarischer Geschichte durch die Regierung; eine Verklärung, so hieß es. Mit einem Mal wurde mir klar, was mir dieses Kribbeln, das ich empfand, sagen wollte. Und es leuchtete mir ein, dass ich auf herkömmliche Art und Weise aus meiner Position als naive Touristin keine validen Informationen über die Geschichte der Stadt und die Geschichte Ungarns erhalten werde. Und dass hier ganz viel unter der blank herausgeputzten Oberfläche der hellleuchtenden historistischen Häuserfassaden brodelte, das von aktueller politischer Seite her möglichst nicht nach außen treten sollte. Ich dachte an die Schuhe an der Donau, ein weiteres bekanntes Monument in Budapest zum Gedenken an die ermordeten Juden durch die Nazis. Dies war m.E. aber doch ein Gegenbeispiel von verzerrter geschichtlicher Darstellung?! Die Tatsache, dass dieses Denkmal offensichtlich des Öfteren von angeblich unbekannten Täter*innen geschunden wurde, deren mediale Thematisierung aber offensichtlich wenig nachhaltig war untermauerte meine Annahme. Es schien, als gäbe es zwei Positionierungen in dieser Stadt. Und das hatte vermutlich seinen Ursprung mitunter in der aktuellen gesellschaftlichen Lage: Ein von Arbeitslosigkeit, Armut und Unsicherheit gezeichnetes Land. Und das inmitten von einem so reichen Europa. Wir konnten diese Dinge nur erahnen und Budapest zeigte sich uns wie der melting pott für Erscheinungen eines wohlhabenden und eines prekären Europas. N. lachte etwas ungläubig über die Summe des Lotto-Jackpots: 158 Milliarden. Während du also in Deutschland Millionär*in wärest, hättest du in Ungarn den Status eines*r Milliardärs*in inne. Ich bin der Meinung, dass schon allein der Symbolcharakter von Geld etwas mit den Menschen macht.

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Feuerwerk zum ungarischen Nationalfeiertag am 20.8.


Ein Beispiel: Ein Glas Wein kostete uns in Budapest umgerechnet ein Euro dreißig und ein üppiges, gutes Abendessen für zwei Personen mit Getränken bedeutete eine Investition von 15 Euro. In Deutschland hätte ich für einen guten Wein mindestens fünf Euro (in Düsseldorf oder Hamburg City zugegebenermaßen sicherlich einen bis zwei Euro mehr) und für ein Dinner zu zweit im Cô Ba in Magdeburg knapp zehn Euro mehr bezahlt. Kein Wunder, dass es die Leute in diese Stadt zog: Sie war leicht zu haben, billig und schön, da spielten doch ihre Geschichte und die politischen Entwicklungen ihres Landes keine Rolle.

Ein Euro entspricht umgerechnet 300 ungarischen Forint

Die ungarische Philosophin Agnes Heller, eine Holocaustüberlebende, beschreibt die heutige Situation in Ungarn als Tyrannei. In einem Radiointerview im Mai spricht sie als Zeitzeugin von ihren traumatischen Erfahrungen, sie war eine derjenigen, die der Sprung in die Donau das Leben rettete.

Republican Saoirse Ronan GIF by A24

Szene aus Lady Bird (USA 2017) | Quelle: giphy.com


Ihr Ausspruch „Alle haben die Wahl“ rekurriert auf ihre Annahme, dass jeder Mensch* dazu befähigt ist, eigene Grenzen zu ziehen; Selbstverantwortung, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, das schwingt da für mich mit. Dazu gehört m.E., dass mensch* bestimmte Fragen stellen können muss, um Dinge zu verstehen. Doch wo lerne ich, diese Fragen zu stellen? Wer bringt mir naiven Menschen diese Fähigkeit bei, ohne mich innerhalb dieses Lernprozesses in eine bestimmte Richtung zu lenken? Woher weiß ich, was richtig und was falsch ist? Ist die Auffassung einer Welt, in der dualistische Kategorien wie richtig und falsch existent sind, in Zeiten der sich verändernden Demokratie nicht längst schon überholt? Das emotionale Unbehagen breitet sich weiter in mir aus und findet einen Höhepunkt: Bevor wir erneut in das jüdische Viertel (in der Nazi-Ära ein „jüdisches Ghetto“) einkehrten, um die atemberaubend schönen und detailreich geschmückten Ruinenbars bei Nacht zu bewundern, schlug N. vor, das Haus des Terrors („Terror Háza“) zu besuchen; es lag auf dem Weg von unserer schönen Wohnung nahe des Donauufers und des palastartigen Parlamentgebäudes. Es handelte sich dabei um ein 2002 (unter Viktor Orbáns Präsidentschaft) eingerichtetes Museum als Gedenkstätte – ähnlich wie das zuvor beschriebene – für die Opfer zweier Diktaturen. Einerseits wurde hier die Geschichte des ungarischen Naziregimes (den sogenannten „Pfeilkreuzlern“) und andererseits die der kommunistischen Machtergreifung nach dem 2. Weltkrieg erzählt.

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Ruinenbar Szimpla Kert im “jüdischen Viertel”


Im Eingangsbereich wurden wir von einem Panzer begrüßt, der umgeben von schwarz-weiß-Portraits der getöteten Menschen auf einem bewässerten Untergrund stand. Drei Etagen standen uns bevor, zwei davon mit Videointerviews, in denen Zeitzeugen schreckliche Foltergeschichten erzählten. Nachdem uns die Orientierung in Gänze abhandengekommen war und die Schließung des Museums nahte, kam N. auf die brillante Idee, die dritte Ausstellungsetage einfach gegen die Laufrichtung zu durchschreiten. Ich hielt dies für einen guten Einfall, auch um den Menschenmassen, die mit Sack und Pack durch die teilweise engen Gänge des Museums zogen, zu entkommen. Im letzten Ausstellungsraum sollte uns der Höhepunkt des Museums erwarten: Ein auf einer Wand angebrachter Foto- und Videostream bebilderte die Machtergreifung durch die (deutschen) Nazis im 2. Weltkrieg. Auf der Rückseite der Wand war ein Stream zur Besetzung durch die Rote Armee zu sehen. Auf das erste schreckliche Ereignis folgte das andere wie ein einschneidendes historisches Déjà-Vu und untermalt wurde diese Darstellung von hartem Heavy Metal, der in Schleife abgespielt wurde. Dies war der für mich geschmackloseste Anblick, dem wir während unseres Besuches ausgesetzt wurden. Unsere uns überrumpelnde Irritation, die sich bereits im Kellergeschoss einstellte, in denen Folterkammern und ein nachgebauter Fallstrick ausgestellt wurden, erklärten wir uns durch eine schlechte Kuration. Ohne den für 1.500 Forint käuflich erwerbbaren (deutschen) Audioguide war man praktisch verloren im Wahnsinn der musealen Choreografie. Etwas geknickt blickte ich in das Gästebuch, in dem das zweigeteilte Stimmungsbild der Besucher*innen aus der ganzen Welt ersichtlich wurde.  Beruhigend jedenfalls: wir waren nicht die einzigen irritierten Touris.

Reflektieren geht über konsumieren

Vielleicht war es einfach ein großes Unglück für uns, dass wir gerade zur Zeit des Nationalfeiertages zum Gedenken an die 1000jährige Geschichte Ungarns nach Budapest kamen und uns ausgerechnet diese beschriebenen Orte über den Weg liefen?! Als wir am Morgen des 20. Augustes von den tieffliegenden Düsenjets geweckt wurden, die Teil einer militärischen Flugshow über der Donau  waren, konnte ich diesen Gedanken jedenfalls noch nicht entwickeln.  Ein Ort, der mir sehr imponierte und in dem ich am ehesten eine realitätsnahe Aufarbeitung der Geschichte vermutete, war die große Synagoge – an dieser Stelle erwähnt: die zweitgrößte der Welt nach New York. Auch wenn ich die Guide in ihrer geführten Erzählung zum Gebäude als recht zurückhaltend für uns deutschsprachige Touris empfand (auch im Vergleich zu der englischen Führung, die ich bei unserem Besuch des Innenhofes belauschte und in der ziemlich rational und auch ausführlich über die Ermordung der jüdischen Bevölkerung durch deutsche Nazis gesprochen wurde), konnte ich an diesem Ort sehr viele Hinweise erhaschen, die die Budapester Geschichte betrafen. Ein Besuch wert gewesen wäre sicherlich auch das Holocaust Memorial Center, N. und ich hatten es zu spät entdeckt.

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Szene aus Casablanca (USA 1942) | Quelle: giphy.com


Was war nun aus dem Gefühl geworden, dass ich im Gepäck mit zurück nach Magdeburg genommen hatte? Zuerst einmal resümiere ich, eine sehr intensive und emotionale Zeit mit N. verbracht zu haben, die mich und uns sicherlich ganz neben dem Drumherum weitergebacht hat (vielleicht dazu mehr in einem nächsten Blogartikel). Was mein Gefühl betrifft, das der Besuch Budapests in mir ausgelöst hat, kann ich sagen, dass es mich ebenfalls weitergebracht hat. Ich habe gesehen, wie vielseitig Europa ist, wie unterschiedlich Menschen innerhalb dieses vereinten Raumes mit Geschichte umgehen, ihr Bedeutung zuschreiben und auch diese reflektieren.

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vegetarisches Letscho


Es ist wichtig und gut über Geschichte zu sprechen, um weiterzugehen und sich gegenseitig weiterzubringen, meine ich. Es ist bedauerlich, dass wir in Budapest aus verschiedenen Gründen viel zu wenig Gelegenheit hatten mit Budapester*innen über Geschichte, das Heute und die Gefühle zu sprechen, die verschiedene Narrative in uns auslösen. Vielleicht wäre ein gemeinsamer Blick auf das, was passierte, passiert und passieren wird auf der Welt dann ein anderer? Pathetisch formuliert: Wir – und damit meine ich jede*n von uns – sollten zu einer Kultur des Miteinander-Sprechens einladen – über uns, das was wir waren, sind und sein können. Doch dafür braucht es Zeit, Geduld, Bereitschaft zuzuhören und sich einzufühlen. Doch wo lernt man das nur?

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Blick durch die Straßen auf die Donau


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