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  • AutorenbildJules Cachecoeur

Der Hassel ist nicht Gotham City.

Es ist Herbst. Das merke ich daran, dass kaum weniger als eine Stunde nach Feierabend die Silhouetten der schönen Häuserfassaden der Sternstraße von jetzt auf gleich scherenschnittartig vor einer schwarzen Leinwand erleuchten. Im Nebelschwaden knistern umherwehende Blätter und ich kuschele mich in meinen Mantel, da es kalt geworden ist. Es heißt, dass mit dem verfrühten Einbruch der Dunkelheit nun auch vermehrt böse Gestalten durch die Straßen Magdeburgs zögen, die sich insbesondere am Hasselbachplatz versammeln, um Unruhe zu stiften. Der Hassel als Sammelstelle von Bösewichten?

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Quelle: giphy.com


Sollte sich demgemäß ein Superheld wie Batman jemals in dieses „Problemviertel“ verirren, würde er ähnlich wie in Gotham viel Arbeit an den Hacken haben. Das könnte man* zumindest annehmen, wenn man* vielen Pressestimmen und auch Schilderungen einiger besorgter Mitbürger*innen Glauben schenkt. Die Polizei verzeichne für die „Barmeile“ Magdeburgs seit einer ganzen Weile eine deutliche Zunahme an Gewalt in jeglicher Form. Es scheint also, dass der Hasselbachplatz endlich eine*n Superheld*in benötigt. Ich eile zu meiner Verabredung mit A. Bevor wir uns am Jakelwood treffen, muss ich noch kurz zum Postkasten am Bäcker und die Geburtstagskarte für meine Tante einwerfen. Hierfür muss ich ihn passieren, diesen so unsäglichen Ort.

Wo keine Mülleimer sind, können auch keine brennen

Auf der anderen Seite der Straßenbahnschienen hocken die beiden bekannten obdachlosen Männer, die mit einem Pappbecher auf Geldspenden hoffen. Oder auch einfach auf eine nette Seele, die eine Zigarette oder etwas zu essen entbehrt. Wie die meiste Zeit schweigen sie und schauen ins Leere. Gleich daneben stehen zwei überproportioniert muskulöse und völlig zutätowierte Männer in Muscleshirts und Jogginghose, die sich angeregt unterhalten. Der eine mit einer Sporttasche über der Schulter, da er vermutlich gerade von McFit kommt und zufällig auf seinen Kumpel getroffen ist. Die Aufmerksamkeit der beiden liegt auf dem gerade mal turnschuhgroßen Pitbullwelpen, den einer der beiden an der Leine führt. Bevor jeder seinen Weg weitergeht, verabschieden sie sich mit „Mach juht“.

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Quelle: giphy.com


Eine Gruppe junger Menschen sitzt auf den unbequemen Metallbänken, die in die sonst kahl gehaltene Umgebung um den Kreisverkehr des Hasselbachplatzes hineinmontiert wurden. Aus schrammeligen portablen Audioboxen dröhnt deutscher Hip Hop und dazu wird mit Bier angestoßen, gequatscht und gelacht. In einem kurzen Flashback erinnere ich mich an die Orte meiner Jugend, an denen wir zusammen abgehangen haben und mir fällt dieser ominöse Spielplatz hinter dem Internat ein, wo wir nicht nur Zigaretten geraucht und den Sportunterricht geschwänzt haben. Ein Teil, der zum Erwachsenwerden dazugehört. Und wo, wenn nicht auf den Bänken am Hassel, sollten diese jungen Menschen denn sonst abhängen? Nachdem die Karte im Postkasten versunken ist, schnelle ich am Biergarten des Kartells vorbei und entkomme damit dem bestialischen Gestank nahe des Schachtes der Bäckerei. Ich hoffe jedes Mal, so auch heute, dass es Friteusenfett ist. An der Shisha-Bar Ecke Einsteinstraße sitzen insgesamt acht bis zehn junge dunkelhaarige Männer, die in kleineren Gruppen in einer anderen Sprache miteinander erzählen und ihre Wasserpfeifen quarzen.

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Quelle: giphy.com


Wenn jetzt Batman hier vorbeikommen würde, würde er sein Batmobil parken und sich erstmal dazusetzen. Die berichteten kriegsähnlichen Zustände am Hassel scheinen an mir vorbeizugehen. Wenn nicht gerade der Aufstieg des FCM in die 2. Liga mit sämtlichen Sprengkörpern gefeiert wird wie die übliche Silvesterzeremonie in jeder Stadt, dann ist der Aufruhr um diesen Platz eher eine gruselige, medial erzeugte Dystopie. Ich meine, vielleicht bin ich blind oder resistent. Aber die Menschen heute Abend in meinem Umfeld wirken auf mich jetzt nicht unbedingt gemeingefährlich. Vielleicht habe ich aber auch bloß zu viele Superheldenfilme gesehen, in denen der Unterschied zwischen Gut und Böse nun immer fast ohne Graustufen dazwischen und in dichotom konstruierter Form sehr eindeutig erkennbar gemacht wird.

Angst Fiction für die Wutbürger*

A. schreibt mir, dass sie sich etwas verspätet. Ich warte also vor der Bar und vernehme die umherziehende Truppe des Ordnungsamtes und der Polizei in der Ferne, die in ihrer dunklen Kleidung schon beinahe als zivil durchgeht. Ob ich mich nun sicherer fühle in ihrer Gegenwart, vor allem als Frau, alleine, wartend in der Dunkelheit? Ich überlege, wie es für mich damals in Bochum war.

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Sternstraße am Hasselbachplatz | Magdeburg


Auch da lebte ich inmitten der Innenstadt nicht weit vom „Bermudadreieck“, der dortigen Partymeile. Mal davon abgesehen, dass die in den Abendstunden unüberschaubare Masse an größtenteils stark alkoholisierten Menschen ein anderes Raum- und Sicherheitsbewusstsein hervorrief als ich es in Magdeburg empfinde, so waren es auch die Schlagzeilen am nächsten Tag in den Zeitungen über Raub, Körperverletzung und Messerstechereien, die mich hätten einschüchtern können. Und doch habe ich die Innenstadt am Abend nie gemieden. Mein Erleben in der Stadt führte vielmehr dazu, dass ich begann, achtsamer zu sein für die Dinge, die um mich herum geschehen. Ähnlich geht es mir als Anwohnerin des Hassels. Denn wenn Magdeburg wirklich so etwas wie einen sozialen Dreh- und Angelpunkt hat, dann ist er es. Dieser Ort ist ein melting pot von ganz unterschiedlichen Menschen, die sich hier gewollt, ungewollt, bewusst und unbewusst begegnen – die lebendige Seite der Stadt, klein und dreckig, aber nie befremdlich, sondern eine ehrliche Haut. Hier kommen bei Tage und bei Nacht Menschen miteinander in Kontakt, deren Wege sich teilweise sonst niemals kreuzen würden. Und selbst wenn es nur bei Blicken bleibt, die sich streifen, der Hassel ist ein Ort, an dem man* Toleranz erkundet, praktiziert und weiterentwickelt – wenn man* offen und bereit dafür ist. A. und ich verbringen einen wunderbaren Abend mit tollen Gesprächen im Jakelwood, neben dem Stern einer der Lokale am Hassel, in denen ich viele schöne Abende mit meinen Freund*innen genieße.

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Quelle: giphy.com


Das verzerrte Bild vom Altstadtviertel um den Hassel, das medial entworfen wird, braucht eine realitätsbezogene Korrektur, auch um den Bestand solcher Lokale zu erhalten. Deshalb lade ich alle Menschen ein: Kommt her, wenn ihr offen und bereit seid. Wir brauchen keinen Batman, wir brauchen einfach ein bisschen mehr Achtsamkeit.

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