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  • AutorenbildJules Cachecoeur

Hassel hat mehr als Wurst.

Aktualisiert: 11. Juli 2019

Quelle: giphy.com

„Wie ist das eigentlich so mitten im Brennpunkt zu wohnen? Hat man da nicht eigentlich permanent Angst?“, fragt man mich während der Mittagspause mit einem ganz zaghaft skeptischen Unterton. Wir sitzen in der Kantine, um uns einige gewöhnlich hungrige Menschen, die alle bei gewöhnlich unspektakulären Unterhaltungen in ihrem gewöhnlich lauwarmen Komponentenessen rumstochern und sich auf ihren gewöhnlich mittelunterhaltsamen Feierabend freuen. „Ja, bis auf die drei mäßig verheilten Schusswunden kann ich es einigermaßen verkraften, danke“, sage ich und unterwerfe mich der Stochermentalität meiner Mitmenschen in dieser täglichen Routine. Der Drang, die fragende Person mit der Information, dass ich häufiger zur ironischen Übertreibung neige, zu betrauen, weicht meinem Hang zur Provokation und ich erfreue mich an dem Gesichtsausdruck meines Gegenübers. Vielleicht ist es auch der Geschmack der Tomatensauce. Die braunen Bröckchen, die darin schwimmen, sehen nämlich nicht allzu appetitlich aus.

Wenn mich Menschen fragen, wieso ich am Hasselbachplatz wohne, dann komme ich immer wieder zu der Aussage zurück: „Wenn nicht hier, wo sonst?“ Natürlich gibt es viele schöne Ecken in Magdeburg. Wo statt Unkraut aus den Fugen der Bodenpflasterung und ausgebrannte Mülltonnen, in ruhiger, naturbelassener und gepflegter Wohngegend akkurat angelegte Lorbeerhecken eine ebenfalls akkurat angelegte einbahnige Zufahrtsstraße säumen. Aber neben dem kleinbürgerlichen Einöd gibt es genauso pure, etwas abgeranzte Gebiete, die mich mit ihren kaputten Straßen, der Dönerbude, dem arabischen Supermarkt und dem alteingesessenen Späti ein wenig an das Ruhrgebiet erinnern. Was das Besondere am Hasselbachplatz ist, ist dass er diese ganzen vielen Stadtteile repräsentiert und er deshalb zu Recht als das Herz des Altstadtviertels bezeichnet wird. Hier kannst du morgens aufstehen und zum Brötchenholen mit Badelatschen und Joggingpeitsche das Haus verlassen, ohne dass die Leute dich anglotzen und über dich reden.

Quelle: wix.com

Hier kannst du auch nach 22 Uhr noch friedlich vor der Bar sitzen und plaudern, ohne dass gleich das Ordnungsamt anrückt, weil irgendein bekloppter Nachbar sich beschwert hat. Hier kannst du anziehen und bumsen was und wann du willst; es krähen womöglich nur die Raben danach. Hier findest du alles, was du woanders in Monokultur hast. Der Hassel ist Vielfalt, das ist sein Potenzial. Der Hassel hat längst mehr zu bieten als eine Würstchenbude. Die Zeiten ändern sich, dieser Ort wächst mit. Man könnte auf die Idee kommen, das gastronomische Angebot als Indikator der kulturellen Diversität vor Ort zu lesen. Viele beschweren sich über das Kneipensterben, doch das ist tatsächlich kein Magdeburger Phänomen per se, sondern offensichtlich ein deutschlandweiter Trend, der das Freizeitverhalten unserer nachfolgenden Generationen betrifft (vgl. JIM-Studie 2018).

Sofern man also den Hasselbachplatz als Spiegelbild gesellschaftlichen Wandels betrachtet, wird er interessant für alle , nicht nur Gesellschaftsforscher*innen, denn er führt denen, die hierher kommen, gesellschaftliche Veränderungen, sowohl positive als auch negative, provokativ vor Augen.

Ein Ort, der Reflexion anregt


Aber warum ist sein Image eigentlich so schlecht? Oder etwas emotionsbetonter gefragt: Ist der Hassel ein böser Ort? In Anbetracht der medialen Berichterstattung der letzten Jahre ist es kein Wunder, dass er seinen Ruf als einer der unsichersten Orte hier in Magdeburg weg hat. Folgt man den Stimmen der Journalist*innen soll es hier neben Alkoholmissbrauch, Drogenverkauf, brennenden Restaurantstühlen, umherfliegenden Flaschen, Steinen und Feuerwerkskörpern auch regelmäßig Schlägereien und Raubüberfälle geben. Wir wissen, wenn die Journalist*innen den Weg der Dystopisierung einmal beschritten haben, scheint es in Anbetracht der einschlägigen Öffentlichkeitswirksamkeit kein Zurück mehr zu geben und schon wird aus einem Ort der Vielfalt ein Ort der Missstände und des Bösen.


Quelle: giphy.com

Es würde lediglich eine dekonstruktivistische Auseinandersetzung mit den postfaktischen Phänomenen der medialen Berichterstattung bleiben, wenn ich an dieser Stelle nicht nochmal auf mein eigenes Erleben als Bewohnerin des Hassels zurückkommen würde. Denn Ziel dieses Blogartikels ist es, dem entstandenen Bild eines kriegsähnlichen Zustandes im Herzen der Stadt etwas entgegenzusetzen – als Reaktion auf die vielen defizitorientierten Beiträge, zuletzt von einem Autor der ZEIT online (16.06.2019), in dem die Menschen am Hassel in zwei recht polarisierende Meinungslager aufgeteilt werden. Diese gesellschaftlich verbreitete Art der Wirklichkeitskonstruktion kennen wir noch aus unseren Kinderschuhen, als man von den Erwachsenen gelehrt bekam, das Gute vom Bösen zu unterscheiden. Und mit einem O-Ton gespickten Artikel Bürger*innennähe zu suggerieren, kann nicht gerade als seriöser Journalismus bezeichnet werden. Wenn man sich schon zum Ziel gesetzt hat, die gesellschaftliche Stimmung vor Ort einzufangen, zählt es m.E. zu journalistischer Seriosität, diese lebensweltnahen Eindrücke in ihrer Heterogenität abzubilden und anschließend mit wissenschaftlich fundierten Quellen zusammenzuführen (vgl. Deutscher Presserat). Nach kurzer Recherche wäre man auch fündig geworden: Beispielsweise befragt das Magdeburger Bürgerpanel seit 2012 die Bevölkerung zu verschiedenen Schwerpunkten, in denen es um die Auswirkungen des demografischen Wandels auf die Lebenssituation und das Verhalten der Einwohner*innen geht (Landeshauptstadt Magdeburg, o.J.: 5). Es ist keine neue Information, dass die Kriminalitätsrate in Magdeburg und ja, auch im Stadtteil „Altstadt“ in den vergangenen Jahren gesunken (ja, gesunken!) ist. Vielleicht sollte das irgendwer noch einmal publiker machen, um besorgten Bürger*innen, wie dem panischen Mann vom Würstchenstand, die Angst zu nehmen.

Die "Erdbeere" bei den sechs Bänken am Hasselbachplatz

Ein Baseballschläger ist auch ein politisches Statement


Neben dem Thema Kriminalität stellt das vermeintliche Gastrosterben einen weiteren, damit eng verknüpften Baustein der medialen Dystopisierungsstrategie des Hasselbachplatzes dar. Die zahlreichen Schließungen namhafter und alteingesessener Lokalitäten, die identitätsstiftend für diesen Ort wirkten, werden als Indiz dafür gelesen, dass die Menschen sich an diesem Ort nicht mehr wohl und sicher fühlen. Wenn man der Theorie Glauben schenkt, könnte auch davon ausgegangen werden, dass die Menschen der Altstadt als favorisierten Wohnort tendenziell den Rücken kehren. Doch faktisch verhält sich dies ganz anders: So handelt es sich nicht nur um einen sehr jungen, sondern auch einen im Vergleich ziemlich frequentierten Stadtteil, der der beliebteste von allen (noch vor Stadtfeld Ost) ist (ebd.: 28). Wie gesagt, der Hassel hat mehr zu bieten als eine Würstchenbude, drei Stahlbänke (es sind übrigens sechs!) und einsam vor sich hin saufende Männer. Gerade in der Gastroszene scheint sich die soziale Dynamik niederzuschlagen: Während tatsächlich einige originäre Bars, wie beispielsweise das Jakelwood, dicht gemacht haben, kam es auch zu einigen Neueröffnungen, und zwar von Lokalen, in denen nicht nur ausschließlich Drinks, sondern eben auch Speisen angeboten werden. Orientiert an den Einträgen bei Googlemaps ist das kulinarische Angebot am Hassel vielfältig und gut. Schon allein die grob geschätzt dreizehn asiatischen Restaurants unterscheiden sich laut Bewertungsprofil von Google-User*innen in Qualität und Angebot. Und tatsächlich ist das Zentrum Magdeburgs zwischenzeitlich so neuzeitlich aufgestellt, dass auch Zugewandte der gesunden, fleischlosen Küche angesprochen werden. Ja, warum berichtet man nicht einmal auch über die kleinen Erfolge, die sich hier ereignen? So sind drei der insgesamt zehn Gewinner*innen des Magdeburger Gründerwettbewerbs 2019 tatsächlich am Hasselbachplatz ansässig, davon wiederum zwei aus dem Gastrobereich. Hierzu zählen zwei Grafikdesignerinnen mit ihrem Concept Store Lokalgold, Madame Lulu mit ihrem veganen Restaurant Botanica und die Phönix-Bar.

Quelle: giphy.com

In meinen Augen bedeutet Vielfalt Kollision sozialer Milieus. Heterogenität bedeutet Reibung und Reibung führt zu Dynamik. Das ist meine Sicht auf die Dinge und vielleicht stecken wir derzeit inmitten eines Schubs des sozialen Wandels, der sich genau an diesem Ort veranschaulichen lässt? Wenn wir die Dinge mit etwas mehr Optimismus und Offenheit angehen würden und die Baseballschläger, Elektroschocker (beide sind m.E. nichts anderes als brennende Fackeln) einfach mal zu Hause lassen, könnte sogar etwas Konstruktives dabei rumkommen. Auch, wenn ich, einer bestimmten Filter Bubble zugehörig, nur durch meine eigene Brille sehe und meine Sichtweise dementsprechend limitiert und geprägt ist, so hat meine Perspektive doch eine ebensolche Relevanz wie die anderer Anwohner*innen und wirtschaftlicher Akteure. Aus vielen (und nicht nur zwei) perspektivischen Puzzlestücken entsteht letztendlich ein Bild dieses Ortes, das der Realität sehr nahe kommen kann.


„Es gibt nur eine Richtung und die heißt vorwärts“ (sagt N. immer zu mir)


Vielleicht verhält es sich so wie mit dem Essen in der Kantine: Es steht uns so offen, ob wir die Tomatensauce mit den braunen Bröckchen essen oder ob wir uns für etwas anderes entscheiden. Ich könnte mich sogar dazu entscheiden, mich diesem gewöhnlichen Komponentenessen der Kantine ganz zu widersetzen und stattdessen meine Verpflegung selbst in die Hand zu nehmen. Dazu gehört die Bereitschaft, sich auch mal außerhalb der täglichen Komfortzone und jenseits von Gut und Böse zu bewegen. Das Entscheidende hierfür ist der Mut zum Hinterfragen.


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