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  • AutorenbildJules Cachecoeur

Corona und der Sinn des Lebens


Wenn ich mal groß bin, dann werde ich… Ja, das waren die Träume, die man als Kind noch hatte. In Zeiten von Corona kann man diesen Satz – zwar etwas umformuliert aber nicht weniger magisch – für sich wiederentdecken. Denn es gibt ja eben auch jetzt eine Zeit nach dem Lockdown, eine Zeit nach Corona, eine Zeit nach der überstandenen Pandemie, auch wenn es, wie aus der Perspektive eines Kindes, erst einmal noch eine halbe Ewigkeit zu dauern scheint.


Wenn Corona mal vorbei ist, dann werde ich…


Nach dem Aufstehen ein geräderter Blick auf das Smartphone. Martini D’ora schreibt „Eine Freundin hat sich in den letzten Wochen gesund ernährt, war jeden Tag joggen, hat schon drei Kilo abgenommen, Gesichtsmaske gemacht, mit dem Puzzeln angefangen ICH KANN EINFACH NICHT MEHR“. Und Schöne neue Wanda twittert „Die positiven Seiten der Quarantäne: Nach einem ausgiebigen Workout endlich Zeit den Kleiderschrank auszumisten und gesund zu kochen #slowfood.“ Oh bitte.

App geschlossen, einen Blick in Instagram und es wird nicht besser. Schön, dass die Menschen ihre Struktur im neuen Alltag finden. Schön, dass es ihnen gut geht. Doch nicht so schön: Dass es mich nervt. Was ist denn los mit diesen Menschen? Nach kurzem Innehalten wird einiges klarer: In der Optimierung liegt die Kraft der Struktur. Indem ich mich – zurückgeworfen auf meine Selbstverantwortung – in Eigenregie darum bemühe, meinen Körper und meinen Geist zu disziplinieren, habe ich auch gleich den schönen (und nicht gerade irrelevanten) Nebeneffekt orientiert zu sein.


"Es gibt immer einen Weg und der geht vorwärts", so N.s Worte – nicht nur in sogenannten Krisenzeiten. Eine optimistische Sicht auf das Leben, N. ist, wie auch ich, ein Kind unserer Kultur. Nicht verwerflich, sondern wohl eher eine gute Voraussetzung, um diese Zeit stark zu meistern. Aber Optimismus ist hier etwas, mit dem sich wohl nicht jede:r schmücken kann. Und das ist auch ok.

Aber es geht hier auch nicht darum, ob Menschen nun erfolgreich darin sind, produktiv, schlank, healthy und deshalb als gesellschaftlich wertvoller betrachtet werden (sollten) oder nicht. Nein, es geht mir eher um die Frage, warum (aus meiner Beobachtung) Menschen zu Corona-Zeiten offensichtlich ein gesteigertes Bedürfnis danach haben, ihre Fähigkeit der Selbstkontrolle zu inszenieren und medial deutlich zu inszenieren. Sicherlich, in dieser kontaktarmen Situation, in der wir uns derzeit befinden, wird ein:e Jede:r automatisch zu seinem*ihrem aufmerksamsten Selbstbeobachter:in. Das Beschäftigen mit sich selber (im inneren Dialog) bedeutet auch freie Fahrt für die innere Kritikerin oder den inneren Antreiber. Man wird im trauten Zuhause Zeug:in davon, ob und dass man bestimmte organisatorische Herausforderungen im (beruflichen) Alltag gewachsen ist oder eben nicht. Ob es einer:m gelingt, die Kinderbetreuung mit der Projektarbeit, das Fensterputzen mit der Webkonferenz oder die Beziehungsarbeit in der Partner:innenschaft mit der Angst davor, sich infiziert zu haben, erfolgreich zu managen. Es mangelt jetzt an Ratgeberliteratur, klugen Zitaten, best-practice-Beispielen, mit deren Befolgung wir auf Nummer sicher gehen können, dass uns diese überwältigenden Herausforderungen, die Synchronität von Rollenerwartungen und diversen Baustellen leicht von der Hand gehen und wir gute Lösungen hierfür parat haben.

…ein perfekter oder ein gescheiterter Mensch


In der Krise werden die Menschen also zwar auch erfinderisch, aber (teilweise) ebenso den sozialen Imperativen unserer Zeit unterwürfig, die da lauten: gesunder und aktiver Lifestyle, Produktivität, perfektes Aussehen, gute Work-Life-Balance. Und die Diskrepanz zwischen dem Schein und der gelebten Wirklichkeit scheint gerade immer weiter auseinander zu klaffen. Das mediale Abbild unserer Gesellschaft (auf den üblichen Kanälen wie Twitter, Instagram & Co. zu beobachten) strotzt nur so vor Optimierung. Zumindest, wenn man danach geht, wie Nutzer:innen sich hier inszenieren. Und noch krasser erscheint dann der Kontrast zwischen denjenigen, die da mithalten können und denjenigen, die aufgrund ganz unterschiedlicher Faktoren von diesen Idealen (bewusst oder unbewusst) abweichen. In dieser Differenz liegt erst einmal kein Problem. Im Gegenteil: Ich sehe hier viel Potenzial zur bewussten Abgrenzung und Gegenbewegung, die den zarten Namen der Entschleunigung trägt.


Aber es geht hier auch nicht darum, ob Menschen nun erfolgreich darin sind, produktiv, schlank, healthy und deshalb als gesellschaftlich wertvoller betrachtet werden (sollten) oder nicht. Nein, es geht mir eher um die Frage, warum (aus meiner Beobachtung) Menschen zu Corona-Zeiten offensichtlich ein gesteigertes Bedürfnis danach haben, ihre Fähigkeit der Selbstkontrolle zu inszenieren und medial deutlich zu inszenieren. Sicherlich, in dieser kontaktarmen Situation, in der wir uns derzeit befinden, wird ein:e Jede:r automatisch zu seinem*ihrem aufmerksamsten Selbstbeobachter:in. Das Beschäftigen mit sich selber (im inneren Dialog) bedeutet auch freie Fahrt für die innere Kritikerin oder den inneren Antreiber. Man wird im trauten Zuhause Zeug:in davon, ob und dass man bestimmte organisatorische Herausforderungen im (beruflichen) Alltag gewachsen ist oder eben nicht. Ob es einer:m gelingt, die Kinderbetreuung mit der Projektarbeit, das Fensterputzen mit der Webkonferenz oder die Beziehungsarbeit in der Partner:innenschaft mit der Angst davor, sich infiziert zu haben, erfolgreich zu managen. Es magelt jetzt an Ratgeberliteratur, klugen Zitaten, best-practice-Beispielen, mit deren Befolgung wir auf Nummer sicher gehen können, dass uns diese überwältigenden Herausforderungen, die Synchronität von Rollenerwartungen und diversen Baustellen leicht von der Hand gehen und wir gute Lösungen hierfür parat haben.


Manchmal ist es gut, nichts zu wissen


Wir sind jetzt an einem Punkt, wo wir lernen. Wo wir kreativ sein müssen, nicht kreativ sein dürfen. Jeden Tag ein bisschen. Vielleicht ist es auch eine Grenze, ein Übergang? Und vielleicht ist gerade jetzt die Optimierung unseres Körpers, unseres Alltags in diesen Zeiten für den:die Ein:e oder Andere:n erst recht eine effektive Strategie, um überhaupt erst einmal klar zu kommen, um festen Boden unter den Füßen zu behalten und beim Anblick der vielen schrecklichen Nachrichten aus der ganzen Welt, bei den Gerüchten um Verschwörung der Regierungen, der viel diskutierten Annahme einer Bedrohung unserer Bürger:innenrechte in Bezug auf die anhaltenden Ausgangsbeschränkungen noch so eine Art von Kontrollgefühl aufrecht zu erhalten?! Das führt dann vielleicht zu einem bemerkenswerten Anstieg neuer Ideen, aber verhilft nicht unbedingt zu mehr intrinsischer Motivation. Es sei denn, wir können mit diesen etwas bewegen, vielleicht nur in unserem kleinen Universum namens Alltag. Es würde völlig ausreichen.

Jede:r, der:die nicht unbedingt in und um die Versorgung von Menschen, die von COVID-19 betroffen sind, eingebunden ist, kann sich aktuell in der privilegierten Situation des Lockdowns doch nun zumindest dankbar zeigen. Dankbar darüber, dass wir unseren Rückzugsort haben, an dem wir uns geschützt fühlen. Dass wir die Freiheit haben, an welchen medialen Erzeugnissen wir uns bei der Beschaffung von Informationen bedienen. Dass wir jeden Morgen mit der Frage danach aufwachen können, wie es weitergeht mit uns als Individuum, als Partner:in, als Eltern, als Tochter oder Sohn, als Enkelkind und hoffentlich auch als Gesellschaft, wenn das alles überstanden ist.

Lasst uns zurücklehnen, entschleunigen und trauen, uns die Sätze unserer Kindheit neu ins Gedächtnis zu rufen, unsere Fragen zur  "Zukunft" mit mehr Fantasie zu beantworten und dabei wieder zu träumen. Denn alles ist jetzt möglich. Auch ohne Bikinifigur, Slowfood und gemachte Steuererklärung.

Bilder & Gifs: unsplash & giphy

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