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  • AutorenbildJules Cachecoeur

Das letzte Millennium

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Quelle: giphy.com


Als sie über Umwege erfuhr, dass er umgezogen sei; raus aus der alten schummrigen Bude, in der sie zeitweilen gemeinsam gehaust, gekocht und sich geliebt hatten auf dieser alten durchgelegenen Matratze; dass er sich nun eine größere Wohnung mit mehr Quadratmetern und Fenstern, mehr Platz zum Atmen und einer größeren Küche, einem größeren Kühlschrank, einer größeren Badewanne und einem größeren Balkon genommen habe; dass er sich eine neue Matratze gekauft und sich von seinem ganzen alten Plunder befreit habe, der in jeder Ecke seiner Bude zu finden war; befreit von dem restlichen Glitzer von ihr und ihm, der noch im Staub hinter den Regalen und Schränken schlummerte, da war es ihr mit einem Mal, als steche etwas in die Rückseite ihres Herzens und obwohl es schon Jahre her war, dass sie und er sich einander wie ein Liebespaar begegneten und nun auch schon einige Jahre ins Land gegangen waren, in denen sie getrennt voneinander lebten, schmerzte es trotzdem und immer noch zu sehen, wie leicht er sie aus seinem Leben gefegt und nun auch die letzten Nachweise ihrer Existenz darin eliminiert hatte. So wie ein kleiner Haufen Staub auf einem Kehrblech im Handumdrehen in den Hausmüll verschwinden konnte.

blue valentine

Quelle: giphy.com


An den neuen Wänden seiner neuen Wohnung hingen nicht mehr ihre übergroßen Bilder, die sie in exzessiven Nächten mit viel Rotwein intus auf dem Boden des Wohnzimmers barfuß sitzend wie ein wildes Tier ohne Bändigung produziert hatte.

Schaufelweise lud sie die Farbe mit dem Spatel auf die Leinwände und fühlte die Bedeutung von dem, was sie auf die weiße Fläche brachte. Es war die Liebe zu ihm, die sie oft klein und häuslich und deshalb manchmal auch rebellisch machte. Die Liebe, die er anders spürte als sie, was sie noch rebellischer werden ließ bis es sie quälte und es schließlich auf gar nicht so dramatische Weise in diesen vier Wänden, diesen heiligen Hallen ihrer Liebe, zu Ende ging mit ihnen beiden. In einer Nacht im Juli, in deren Dunsthaube sich alles Lebendige nur so nach Regen sehnte.

Und in dieser nächtlichen Hitze malte sie, hier auf dem Boden, weil seine unheilvolle Botschaft wie Schlick in der Luft lag und das Atmen schier unmöglich machte.

Der Boden in der neuen Wohnung war im Sommer schön kühl und der Zugang zum Schlaf ging einem leicht von der Hand. Früher musste ein klappriger alter Ventilator für das Einschlafen herhalten. Den hatte er in diesem einen seltenen, erschlagend heißen Sommer vor ein paar Jahren bei eBay-Kleinanzeigen einem Mann abgekauft, der den Nachlass seiner kurz zuvor verstorbenen Mutter in der Garage ihres Hauses verscherbelte. Und egal wie oft sich die vergilbten Ventilatorenblätter auch drehten und die stehende Luftschicht in stinkenden Wirbelwind transformierte, es kam einem so vor, als könne man sie wie Aspik in einzelne Scheiben schneiden.

Dort, wo früher die übergrößen Leinwände mit ihren exzentrischen Farbkleksen hingen, waren heute moderat gerahmte Fotos von ihm und seiner Neuen an den weißen, drei Meter hohen Wänden angebracht. Eine schöne blonde und immerlächelnde Frau, schöner als sie jemals hätte sein können, eine feminine Naturgewalt und sie dagegen ein kindliches Neutrum. Mit ihren kleinen Brüsten und ihrem instabilen Körpergewicht, für Männer wie ihn unverständlich, was du auch immer für Probleme mit dem Essen hast, sagte er manchmal, während er sich nachts literweise Schokoladeneis in den Mund schaufelte und sie daraufhin begann heimlich zu essen, damit er sie nicht als ohnehin schon noch gieriger erlebte.

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Quelle: pixabay.com


Er verwischte ihre Spuren in seinen vier Wänden, die sie hinterlassen hatte und tauschte sie gegen Schätze einer anderen. Der Neuen. Die aß wenigstens das, was er ihr ab und an kochte, wenn ihn der Enthusiasmus gepackt hatte. Und sie zog Stringtangas an. Endlich eine Frau mit Stringtangas. Das hatte er schon immer gut gefunden und nie bekommen.

Im Flur der neuen Wohnung, da stand jetzt so eine bauchige Vase auf einem kleinen Schemel, der mit einem Brokatstoff bezogen war und hinaus ragte ein langer Stiel einer festlich wirkenden Schnittblume. Es hatte ein bisschen was aus diesen Hochglanzeinrichtungsmagazinen. Alles weiß, alles rein, alles klinisch. Zu gerne hätte man sich versehentlich ganz schlimm in den Finger geschnitten, um den weißen Boden mit purpurnem Gesprenkel zu struktuieren und vollzubluten. Das wäre zynisch gewesen. Wenn man nicht gewusst hätte, dass hier Menschen lebten, hätte man es für eine Instensivstation gehalten. Oder einen überteuerten Friseursalon in einer versnobten deutschen Großstadt. Ich liebe es puristisch, sagte er. Das Wort und seine Bedeutung hatte er von der Neuen, der Schöneren von seinen Frauen, gelernt. Die, die Stringtangas trug, seinen gebratenen Speck aß ohne danach auf der Toilette zu verschwinden und keine Anstalten machte, wenn er in ihr ohne Gummi kam.

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Quelle: pixabay.com


Tja, manche Menschen waren eben von Natur aus vollkommen, dachte sie sich. Und wieder andere mussten harte Arbeit dafür leisten, wenigstens einen einigermaßen positiven Eindruck bei den Männern zu hinterlassen. Doch zumeist war es schwer für sie. Die Männer interessierten sich höchstens für sie, wenn sie im Kino zur Vorführung die Filmrolle falsch einlegte. Dann drehten sie sich um zu ihr und für einen Moment konnte sie sich einbilden, dass sie es gut mit ihr meinten. Als hätten sie ihre sexuelle Erregung durch ihren Anblick wiedergewonnen. Dabei waren die heruntergelassenen Hosen und die erigierten Schwänze ganz typisch für ein Pornokino. Es war an einem Montag im Herbst und es war keine gute Idee, dass sie sich in einem Café gegenüber saßen und schwiegen und sie schaute ihn an, sehnte sich danach mit ihren Fingerspitzen die Fährte seiner Augenbrauen nachzuzeichnen. Stattdessen trank er rasch seine Tasse Kaffee leer, legte die Münzen auf den Tisch. Schön dich mal wieder gesehen zu haben. Ich muss los, hab noch Termine. Sie hatte sich die Mittagspause an diesem verregneten Tag schöner vorgestellt. Eine Einladung zu seiner Habilitationsfeier mit Freunden am kommenden Dienstag erschien für ihn als Anlass. Bei sich zu Hause. In seiner neuen Wohnung. Ich würde mich freuen, wenn du kommst.

Schillerstraße. Da wohnten sie jetzt. Er und die Neue mit dem perfekten Körper und den Stringtangas.

Quelle: giphy.com


Nachdem sie ihre Wohnung betreten hatte, legte sie sich auf die kalten Fliesen in ihrer Küche und dachte daran, wie es war, als sie noch gemalt hatte. In der alten Bude. Das hätte ihr gerade sehr geholfen. Sie waren doch beide immer noch zwei normale, zwei erwachsene Menschen. Und doch waren sie nicht im Stande dazu, gemeinsam Kaffee trinken zu gehen, ohne Abstand von ihren Gefühlen zu nehmen. Zwischen ihnen verlor jedes algebraische Gesetz an Bedeutung und alles flog auseinander, in Scherben. Wie die Vase im sterilen Flur in seiner neuen Wohnung.

In der Schillerstraße wohnen nur diese widerlichen glücklichen Ehepaare, hatte einmal ihre beste Freundin Carmen gesagt, eine beziehungsgestörte Nihilistin auf dem besten Wege zu einem Waffenschein. Mag sein, dachte sie sich. Und jetzt wohnen da halt auch eine immerlächelnde blonde Naturgewalt und ein großer, braunhaariger Pantomime, der seine Entscheidungen zu den wichtigen Dingen des Lebens nur mit sich alleine fällte.

Im unteren Regal ihres Kleiderschrankes fand sie in der hinteren Ecke zusammengeknüllt in einer geknickten Plastiktüte mit kleinen Henkeln den letzten Stringtanga ihres Lebens. Ein Übrigbleibsel des Millenniums.

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