DIE INTEGRATION MEINES HAARES UND DER KOLLEKTIVE JAN BÖHMERMANN-HASS
- Jules Cachecoeur
- 29. Aug. 2016
- 12 Min. Lesezeit
Vermutlich wird es noch eine mehr oder weniger große Herausforderung für mich bedeuten in Magdeburg einen* Friseur* meines Vertrauens zu finden. Derzeitiger Stand: negativ.

Quelle: giphy.com
Um nicht auszusehen, wie so manche Erscheinung in der Straßenbahn (diese teilweise verstörenden Modeströmungen kenne ich nur zu gut aus dem Ruhrgebiet), riet mir eine meiner Mitbewohnerinnen dazu, definitiv nicht in Magdeburg einen Friseurladen aufzusuchen. Mithilfe meines Erfahrungswissens verfüge ich zwischenzeitlich über eine gewisse „Konsumentinnenreife“, die durch eine realistische Erwartungshaltung in Bezug auf Dienstleistung und Preis gekennzeichnet ist. Nur so arbeitet man sich durch den Angebotsüberhang der Haarschneidedienstleistung in jeder etwas größeren Stadt.
Bekanntlich wächst Erfahrungswissen im Laufe weiterer Erfahrungen in der Lebensspanne kontinuierlich an und gibt einem das oftmals hässliche Antlitz der Realität zu erkennen. Aus meinem nun geupdateten Erfahrungswissensschatz habe ich ein paar Handlungsmaximen zur Orientierung abgeleitet und zusammengetragen, die bei der Suche nach einem*r guten Friseurhandwerker*in Orientierung stiften kann. In diesem Zusammenhang möchte ich euch meine allerneuste Erfahrung nicht vorenthalten, die mich fortan an meiner oben genannten Konsumentinnenreife zweifeln lässt.
Mein bunter Erfahrungsstrauß
Von rabiaten Rasurtechniken mit anschließender Fissur an der Ohrmuschel über unkonventionelle Orte wie die eigene Wohnung oder eine Sommerwiese, an denen die Dienstleistung erbracht wurde, einem Friseur, der offensichtlich über ein spirituelles Einfühlungsvermögen für mich und seine Kund*innen insgesamt verfügte, bis hin zu typischem Friseurladeninventar – ein grummeliger Mops namens Heidi oder der stereotype, zitternde Affenpinscher – all das gehört zu den Basics des Friseurmetiers und macht den bunten Strauß meiner Erfahrungen hiermit aus. Als Kund*in erlebt man viele absurde Geschichten, hauptsächlich sind es die Lästereien über Prominente und aktuelle medial abgearbeitete Diskurse. Als Soziolog*in sind Friseurladenbesuche Anlässe, zu denen Feldforschung betrieben werden kann, und zwar insbesondere, wenn man neu in einer Stadt ist und sich aufgrund der hiesigen Lebensumstände in der homogenen Gruppe von akademisch (aus)gebildeten Menschen bewegt und eher wenig Berührungspunkte mit anderen soziokulturellen Milieus hat. Der Friseursalon zeigt dir, genauso wie die Bahnlinie, die nicht zum Universitätsgelände führt, wie die Stadt und ihre Menschen sind. Aus meiner Sicht gibt er auch Aufschluss über das Freizeitverhalten der Kundschaft und der Friseursalonmitarbeiter*innen als mehr oder minder repräsentative Gruppe der Magdeburger*innen und zeigt einmal mehr die Gesichter der Menschen und deren Habitus. Da begegnet man beispielsweise denjenigen, die sich für eine angemessene Bestrafung Jan Böhmermanns aussprechen – und das in aller Öffentlichkeit und voller Inbrunst.

Quelle: giphy.com
Der Weg zum Friseur* deines Herzens
Meine Strategie für Magdeburg sieht wie folgt aus: 1. Sei bereit zu investieren. Die alte Handwerksweisheit, dass Preis mit Qualität korreliere, ist ja bekanntlich schon oft durch negative Konsumerfahrungen trotz hoher Investition und/oder eines Markenkaufs widerlegt worden (ich denke an meinen Pürierstab und ärgere mich). Jedoch meine ich (in Erinnerungen an meine Schneiderlehre schwelgend), dass diese Annahme in Bezug auf das Handwerk als solches in seiner Anlage häufig immer noch verifizierbar ist. 2. Komme davon ab, Perfektion zu erwarten. Es ist schwer dem Altbewährten gerecht zu werden, deshalb sollte etwas Neuem eine Chance gegeben werden. Der* Rheinländer* sagt hier gerne: „Jeder Jeck is‘ anders.“ Sprich, jede*r hat seine eigene Technik eine bestimmte Aufgabe zu lösen. Niemand* wird jemals meine alte Friseurin ersetzen können, die voller Akkuratheit und perfektionistischem Zwang an meinem Kopf herumzauberte. Ich wünsche mir jemanden*, der* das halbwegs auf seine* eigene Weise bewerkstelligen kann und dabei gerne ein wenig verrückt ist. Deshalb muss der potenzielle Friseursalon des Glücks auch nicht unbedingt der Stylo-Laden sein, der allen Hipster-Menschen in Buckau die Haare frisiert (gibt’s die da?). 3. Mach dir vorab ein Bild von dem Laden. Das ist immer gut für ein erstes Bauchgefühl und erinnert mich an das obligatorische Telefonat, das den Entschluss für oder gegen ein Date mit einer Internetbekanntschaft erleichtert. Ich muss gestehen gegen die 3. Handlungsmaxime hinsichtlich der Tatsache, überhaupt kurzfristiger (hierzu zählt bereits ein Zeitraum von 3-6 Wochen) einen Friseurtermin zu ergattern, nicht beachtet zu haben. In der Regel und nach meinem letzten Erlebnis ist es jedoch ratsam, diese drei Maximen in ihrer Gesamtheit zu berücksichtigen. Und wenn es dann so weit ist und du zum Termin auf der Matte stehst, gibt es wiederum eine Liste an Kriterien, die für das Erreichen deiner Friseurglückseligkeit relevant sind. Angefangen vom Namen des Salons, über die Größe und architektonischen Bedingungen, die Preiskategorie, die Öffnungszeiten, die Erreichbarkeit, die Freundlichkeit bis hin zu subtilen Gesichtspunkten wie beispielsweise der Dekoration, der Farbauswahl der Möbel, der Authentizität und der Frisuren und der Kommunikationskultur der Angestellten, alles spielt zusammen. So ist der Gesamteindruck ausschlaggebend für die Dienstleistung „Friseurbesuch“ als solche, denn besteht diese Dienstleistung doch aus drei Komponenten: dem soziokulturellen Gefüge sowie dem Potenzial, inwiefern sich der*die Kund*in hiermit identifizieren kann, und der handwerklichen Dienstleistung, dem Haarschnitt. Demzufolge handelt es sich hier um einen ganzheitlichen Dienstleistungsbegriff. Im Folgenden werde ich meine letzte Erfahrung von der Friseursalonsuche bis hin zum fertigen Produkt – dem Haarschnitt – etwas strukturierter widergeben, um letztlich meine handlungsleitenden Maximen als eine Art Leitfaden für die mir bevorstehende weitere Suche zu bestätigen.

Hipster in your face, Quelle: giphy.com
Der strukturierte Leitfaden integiert folgende drei Ebenen: 1. Soziale Faktoren, 2. Unternehmenskultur 3. Qualität der handwerklichen Dienstleistung. Zu den sozialen Faktoren zählen Aspekte wie die Kommunikation zwischen den Mitarbeiter*innen sowohl untereinander als auch mit der Kundschaft, meint aber auch milieuspezifische Eigenschaften der Mitarbeiter*innen und der Kundschaft. Einige Inhalte werden mit dem Punkt Unternehmenskultur überlappen, dennoch ist dieser aufgrund seiner expliziten Begutachtung der unternehmerischen Authentizität von Ebene 1 abzugrenzen. Die Qualität der handwerklichen Dienstleistung bringt die aktive Ausübung des Friseurhandwerkes durch gewisse vom Laien erwartete Techniken zusammen mit der postum evaluatorischen Einordnung der handwerklichen Leistung durch den*die Kund*in. Des Weiteren lässt sich der Prozess dieser ganzheitlichen Dienstleistung auch zeitlich strukturieren, wobei zu Anfang die Phase der Suche, gefolgt von der Phase der unmittelbaren Dienstleistungserfahrung in die Schlussphase der Reflexion der Dienstleistung münden.
Salon-Experience #1: PopHair Friseursalon Buckau
Ein Bekannter meiner Mitbewohnerin, der sich dadurch bei mir beliebt machte, dass er in Dortmund studiert hat und auf mondäne Haarschnitte im Stil der 40er steht, riet mir ab vom Friseursalon gegenüber, da der imageträchtige gute Mitarbeiter namens Matthew nicht mehr dort arbeite. Nun hätte er von Alternativen gehört, die er auch noch ausprobieren wolle. PopHair, ein Unternehmen mit drei Salons jeweils in Stadtfeld, Alte Neustadt und Buckau, sei wohl eine ganz gute Adresse. Habe er zumindest gehört. In Magdeburg, so fand ich heraus, ist es Gang und Gäbe, schon Monate vor und am besten gleich während des Friseurbesuches einen Termin für einen nächsten auszuhandeln. Dies führt dazu, dass Salons monatelang ausgebucht sind. Ich halte dies für einen Witz und eine unnötige Verschiebung einer auf Unzuverlässigkeit beruhenden Absagekultur in die Zukunft. Aber was rege ich mich auf. Das war jedenfalls der erste Zeitpunkt, an dem ich mich so fühlte, als würde ich einen Termin bei einem* Herzspezialisten* oder sonst einem* Fachmediziner* machen, dabei sah ich zwischenzeitlich so aus wie eine aus der Form geratene Konifere mit dunklem Wurzelansatz. Nachdem ich in PopHair Stadtfeld einen Termin für Ende April bekam, wollte ich wissen, was noch drin wäre und rief bei einigen Friseurläden an, deren Internetseite mich einigermaßen ansprach. Nachdem „Der Friseurladen“ mir von seiner prekären Mitarbeitersituation berichtet und mich abgewiesen hat, landete ich bei PopHair Buckau, wo ich prompt einen Termin bei Mitarbeiter Simon* (Name geändert), den ich bereits von einem Foto der Homepage kannte, ergatterte. Ein verregneter Freitagmorgen und verpennt fiel ich aus dem Bett, schwang mich auf mein Rad und rollte mit umsonst gemachter Fönfrisur nach Buckau hinunter. Nach Eintritt in den Laden fiel mir erst einmal nichts sonderlich Bemerkenswertes auf (Unternehmenskultur, Ebene 2), außer, dass der Laden leer war, was sich im Verlauf der nächsten drei Stunden ändern sollte. Simon begrüßte mich freundlich und informierte mich vorab darüber, dass ich einen Fragebogen auszufüllen hatte, der wichtige Angaben zum*r Kund*in und deren Beauty-Merkmalen abfrage. So solle die Zufriedenheit der Kund*innen sichergestellt werden. Erneut fühle ich mich wie beim Mediziner*, jedoch diesmal kurz vor der Erstuntersuchung im Wartezimmer. Zudem fragte er mich, welche Produkte ich täglich für meine Haare nutze. In diesem Salon verwende man ja ausschließlich vegane Produkte dieses schweizerischen Unternehmens, dessen Wurzeln in der Pharmaziebranche liegen. Und im Anschluss an diesen Einschub schloss er mit dieser friseurtypischen Rümpfnase, der Attitüde „Das, was du da nimmst, sind doch keine richtigen Produkte“ und dem Spruch: „Diese ganzen Silikone sind überhaupt gar nicht gut für das Haar!“ Ich fühle mich, wie immer getadelt von Vertreter_innen des Friseurhandwerkes und dachte an meine wasserstoffblondierten Haare, in denen, wenn es hoch kam, höchstens noch zwei Prozent Leben steckte und sie deshalb ohne die bestimmte chemische Drogendosis überhaupt nicht lebens-/ bzw. frisierfähig wären.

Quelle: giphy.com
Für mich ist der springende Punkt eher die Umwelt, aber das ist eine andere Diskussion. Nun gut, gescholten sitze ich auf dem Drehstuhl und werde mit meiner Ansatzfärbung verarztet. Das dauert. Zwischendurch geht Simon einige Male quer durch den Laden, bestellt mit seinen Kolleg_innen Mittagessen beim Imbiss und raucht draußen. Das bemerke ich dann sehr deutlich, als er mir am Waschbecken die Haare auswäscht und der vormals angenehme Geruch des Shampoos sich mit dem penetranten Zigarettengeruch seiner Finger vermischt. Diese Duftmixtur habe ich noch tagelang in meiner Nase.
Soziale Faktoren und Unternehmenskultur
Es sind folgende Konversationsbruchstücke, an denen ich die Relevanz oft subtiler sozialer Gesichtspunkte darlegen möchte und anhand derer ich zudem Rückschlüsse auf den Informationsstand der Kundschaft und der Mitarbeiter*innen (Ebene 2) sowie deren Habitus und dessen Prägekraft für die gesamte Unternehmenskultur ziehe.

Quelle: stern.de
Szene 1: KULTURELLE BILDUNG – DIE BÖHMERMANNPOSSE
Kunde: „Dieser Böhmermann dit is ja och n janz schmierijer. Jeschieht ihm recht, der bekommt ja so viel Asche vonne Je-eh-zett:“
Friseur: „Ja, echt mal, so’n Aalglatter is dat. Ick sach‘ ja immer, der muss sich nisch wundern. Der soll ma schön bestraft werden, dann lernt der vielleicht ma wat.“
Kunde: „Ja, die bekommen so’n Ast Jeld von allen und wat machense? Ausm Fenster schmeißen und sich och noch so daneben benehmen.“
Die Bezeichnung „Dieser Böhmermann“ weist auf ein Vorwissen hin, über das beide Gesprächspartner trotz unterschiedlicher Rollenpositionen verfügen und dieses ohne besondere Thematisierung innerhalb ihrer Konversation abrufen und weiterverarbeiten. Beide haben ein bestimmtes inneres Bild vor Augen, während sie über „diesen Böhmermann“, diesen „aalglatten“, „schmierigen“ Menschen sprechen, haben sie ihn bereits als Repräsentant der GEZ (Gebühreneinzugszentrale), dem Finanzkoordinationsorgan der Institutionen des öffentlichen Rechts, identifiziert und so als Persönlichkeit der Medien eingeordnet. Beide Sprechakteure nehmen in dieser Sequenz gegenüber diesen Institutionen eine kritische Haltung ein, da sie der Annahme folgen, diese würden Finanzmittel ineffizient einsetzen. Der Kunde äußert sich zudem zu der aktuellen Debatte um die Aufnahme eines Verfahrens gegen Jan Böhmermann aufgrund seines Verstoßes gegen §3 des Strafgesetzbuches. Details werden an dieser Stelle aufgrund der inflationären Berichterstattung über diesen Vorfall ausgelassen. Auch hier verfügen beide Gesprächspartner über einen aktualisierten Wissensstand, der die thematische und strukturelle Ausrichtung dieses Gespräches ermöglicht und in einen Sinnhorizont eingliedert. Offen bleiben einerseits Hinweise auf die Informationsaneignungstechniken, die von beiden Akteuren angewandt wurden und andererseits, welche Quellen ihnen verfügbar waren und letztlich selektiv beansprucht wurden.
Szene 2: SUBJEKTIVE INTERVENTIONSSTRATEGIEN BEI AUFERLEGTER LANGEWEILE
Kunde: „Ick war drei Wochen krank zu Hause. Nee, ernsthaft, ick war richtisch krank, wa. So mit Fieber, alles. Halt dich bloße mal auf Abstand, wa? (lacht)“
Friseur: „Oh. Ja, geh‘ bloße wech von mir! (lacht) Und wat machse, hasse Konsole?“
Kunde: „Nää, wirklich, ging nischt, kannse doch nisch Konsole spielen bei Fieber, weße. Ick war RICHTISCH krank! Kann ick mir auch nisch vorstellen, so den janzen Tach zu Hause abhängen. Da wirse mal bekloppt. Keen Wunder, dat die alle früher oder später durchdrehen. Ick würd die Krise kriegen.“
Für den Friseur erscheint der Eintritt einer akuten Infektionskrankheit und der Tatsache, aufgrund dieser mit erhöhter Temperatur die Bettruhe einhalten zu müssen, offensichtlich unvorstellbar. So gelten für ihn freizeitliche Aktivitäten, wie die Beschäftigung mit einer Spielkonsole als mögliche Strategien, den durch außen auferlegten Zwang zum Nichtstun zu kompensieren und die Zeit der fremdbestimmten Inaktivität mit Sinn zu befüllen. Beide Gesprächspartner setzen das implizite Wissen über eine Differenzierung von „richtigem“ und „nicht richtigem“ Kranksein voraus. So betont der Kunde erneut, dass er „wirklich“ krank war und diesen Zustand nicht simuliert habe, um sich möglicherweise ohne vorliegendes Indiz einer akuten Erkrankung trotzdem von der Erwerbstätigkeit freistellen zu lassen.

Quelle: giphy.com
Diese beiden Gesprächssequenzen geben Aufschluss über die soziokulturelle Prägung der beiden Gesprächspartner. Die Reproduktionszeit mit einer Spielkonsole zu verbringen, ist an dieser Stelle natürlich kein Anzeichen dafür, in welches Milieu eine Person zu verorten ist, aber liefert Hinweise auf die individuelle Lebensgestaltung in Phasen der Nichtarbeit. So wird per se weniger beansprucht die arbeitsfreie Zeit mit einer Tätigkeit zu befüllen, die dem*r Handelnden* eine unmittelbare körperliche Aktivität abverlangt. Wiederum naheliegend ist, dass der Friseur deshalb diese Tätigkeit mit der durch die Krankheit ausgelöste Inaktivität in Zusammenhang bringt. Alternative Tätigkeiten, die ebenfalls mit einer geringen körperlichen Aktivität ausführbar sind, bringt er jedoch von vornherein nicht zur Sprache. Interessant erscheint auch die subtile Art und Weise, wie das Themenfeld „Erwerbstätigkeit“ sowohl innerhalb als auch außerhalb dieser geschilderten Gesprächssequenzen diskursiv bearbeitet wird. Es werden eindeutige Hinweise darauf gegeben, dass das Primat der Arbeit als schicksalhaftes Los akzeptiert wird bzw. werden muss. Ferner wird die berufliche Tätigkeit möglicherweise aufgrund der ökonomischen Abhängigkeit des Individuums allen anderen Teilbereichen des Lebens übergeordnet. Exemplarisch hierfür ist ein weiterer Kunde, der angibt, in seiner Mittagspause den Friseurtermin wahrzunehmen und dieser demzufolge rasch vonstatten zu gehen habe, da er zeitig seine Arbeit wieder aufnehmen müsse.
Der Kunde in den beiden angeführten Gesprächssequenzen scheint sich zudem von einer Personengruppe abzugrenzen, die dauerhaft ihre Zeit zu Hause verbringt. Genauer definiert er diese Gruppe nicht, beurteilt ihre soziale Situation jedoch aus seiner Sicht ebenfalls als unvorstellbar.
Beide Gesprächssequenzen sind Teilelemente in einem Gesamtgefüge, das letztlich die Dienstleistung „Friseurbesuch“ ausmacht. Insgesamt kann konstatiert werden, dass der kommunikative Austausch – in besonderer Weise der zwischen Kundschaft und Friseurhandwerker*in – sehr wichtig für die Erbringung der ganzheitlichen Dienstleistung „Friseurbesuch“ ist. In aller Regel werden Themenfelder, die aktuell medial sehr präsent sind, bearbeitet. Die Flüchtlingssituation in Deutschland, der Böhmermanneklat, die Europapolitik unserer Bundeskanzlerin, hier kommt einiges zusammen. Darüber hinaus wird dieses politisch-öffentliche Themenspektrum durch persönliche Inhalte erweitert, wie beispielsweise die Krankheit eines Kunden oder Wochenendaktivitäten und Anekdotennarrationen aus dem Privatleben. Dies schafft nicht nur zwischen dem*der Kund*in eine sehr nahe und sensitive Kommunikationsverbindung, sondern verwandelt den Ort „Friseursalon“ in einen sozialen Raum, der die architektonische Voraussetzung dafür ist, dass diese Art von Kommunikation überhaupt stattfinden kann.
Zufriedenheit mit der handwerklichen Leistung
Als Laie kenne ich mich nicht unbedingt mit handwerklich genormten Techniken des Haareschneidens aus und greife deshalb auf mein Erfahrungswissen zurück, welches Orientierung bei meiner Urteilsfindung nach der erbrachten Dienstleistung „Haarschnitt“ leistet. Ich gehe die Pfade in meinem Gedächtnis ab, die mich zu positiven Erfahrungen mit dem Haareschneiden und zu extrem negativen Erfahrungen bringen. Zwischen Simon und mir herrscht seit einer Weile Schweigen. Ich frage mich, wieso. Dann erkenne ich, dass ich im negativen Sinne fasziniert bin davon, mit welcher Scheu er meine Haare mit seinen Fingern berührt, um sie so zu halten, dass er die Schere ansetzen kann. In meinen Laienaugen wirken seine Handbewegungen weder technisch, noch versiert oder erfahren, sondern vielmehr widerwillig, unliebsam, bloß mäßig engagiert und – sofern ich das beurteilen kann – dilettantisch. Die Rede ist hier von meinem ganz subjektiven Empfinden.

Salma Hayek als Frida Kahlo (2002), Quelle: giphy.com
Als er den Rasierapparat für das Nachzeichnen meines Undercuts ansetzt, werde ich innerlich wirklich panisch. In erster Linie denke ich an die Sicherheit meines Ohres. An zweiter Stelle an die meiner Haut. Erst an dritter Stelle denke ich daran, dass er mir eine unwiderrufbare Macke ins Haar rasieren könne. Traurig, aber all diese Sachen hätte ich ihm zugetraut. Simon schafft es: Das Bisschen, was er an meinen Haaren nach der Ansatzfärbung frickelt, macht er ohne Komplikationen. Das war aber auch schon alles. Unaufgefordert und von sich selbst aus (so auch bereits mit der Haarkur am Waschbecken, nach deren Einwirkzeit ich eine halbe Nackenstarre zu ertragen habe) fönt er mein Haar und sagt im Anschluss leicht genervt: „Ach ja, jetzt fön ick dir die nochmal n bisschen auf, wa.”
Achtung, n bisschen hatespeech
Urteilslos gehe ich hinüber zum Jackenständer, greife nach meiner Jacke und fühle mich wie paralysiert. Ich bin benommen von allem, ganzheitlich, dem Gesamtgefüge. Es ist wie eine Art Schock. Simon tänzelt zur Kasse, tippt hier und da irgendwelche Preise in den Computer und nuschelt im Anschluss daran die Summe, die diese Dienstleistungs wert sein soll. Erschüttert und gleichzeitig erboßt schiebe ich meine Girokontokarte hinüber. Siebenundsiebzig Euro. Für was? Ernsthaft. Für was? Für den Zigarettenqualm? Den Zettel, den ich am Anfang ausfüllen sollte? Für die nervigen Gesprächsfetzen, die mir um die Ohren knallten? Für das langweilige Blabla mit dem Friseur darüber, dass in Magdeburg nichts abgehen würde und Feiern nur in Berlin oder Hamburg möglich sei? Dafür, dass ich mindestens drei Mal jeweils 10 Minuten zu warten hatte, darauf, dass Simon eine andere Kundin bediente, sein Mittagessen bestellte (ja, jeder Mensch hat ein Recht auf Pausen bei der Arbeit, aber man kann es freundlicher und transparenter machen) oder hinausging zum Rauchen?

Quelle: giphy.com
Dafür, dass ich mir die ganze Zeit schlechte Spotify-Playlisten mit Kirmesmusik reinziehen musste oder diese schlimme Frau, die ständig alle Frisuren ihrer Mitmenschen kommentieren musste neben mir zu ertragen hatte? Dafür, dass man mich nicht nur wegen meines Zuzugs nach Magdeburg als verrückt erklärte, sondern auch dass man meine Haare mit den renommierten veganen Produkten eines Schweizer Apothekenunternehmens behandelte? Es leuchtet mir ein. Ich glaube, auch er weiß mein paralysiert reserviertes Verhalten zu deuten. Vielleicht täusche ich mich auch.
Ich gehe zu meinem Rad, das im Regen da draußen auf mich wartet und bin froh meine Kapuze über den Kopf ziehen zu können. Es ist wirklich ein armseliges Gefühl sich über den Tisch gezogen zu fühlen und ich entscheide mich bewusst dazu, aufmerksamer zu werden. Nicht so leicht zu verschaukeln zu sein. Vielleicht hatte ich das ausgestrahlt? Vielleicht sah ich aus wie eine reiche Schickse aus dem Westen von Deutschland? Jedenfalls war mir klar, dass ich es nicht war, die zu ihrer Klientel gehörte, soviel stand fest. Und Simon? Ja, also ich denke, jeder* Mensch* ist in irgendeiner Sache wirklich gut. Das glaube ich wirklich, kein Scherz. Allerdings fällt mir, so wie für manche*n Busfahrer*in oder so manche*n Lehrer*in oder auch Herzspezialist*in der Spruch ein: „Augen auf bei der Berufswahl.“
Was meinen Leitfaden angeht: Ich werde nicht aufgeben, aber ich werde auch nicht weniger kritisch werden, sondern – im Gegenteil und mit Blick auf meine Konsumentinnenreife – künftig noch spezieller auftreten und meine Kundinnenanliegen und –werte konkret(er) äußern. Vielleicht verschafft man sich dadurch etwas mehr Respekt im Sinne einer Dienstleistungsbeziehung zwischen zwei Akteuren, die sich zum Ziel gesetzt haben, zufrieden aus der Situation hinauszugehen. Beidseitig. Ich glaub, jede*r Ökonom*in hätte das an dieser Stelle jetzt mit dem chicen Label „Win-Win“ versehen. Ich glaube, wir lassen das. Final möchte ich, dem PopHair Salon Buckau wohlgesonnen, Folgendes zugeben: Schon allein wegen des Jan Böhmermann-Diss wäre die Zufriedenstellung meiner Person wohl an diesem Tag an diesem Ort in dieser Konstellation kaum noch möglich gewesen. Und doch stehe ich dazu, eine anspruchsvolle Kundin zu sein, die definitiv nicht mehr wiederkommen wird.

Comments