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  • AutorenbildJules Cachecoeur

Die roten Fäden meines Lebens.

Ich bin fest davon überzeugt, dass es irgendwann einmal eine regelmäßig stattfindende Trainingsstunde gegeben haben muss, in der alle Menschen professionell darauf vorbereitet wurden, eigenhändig den perfekten Plan vom eigenen Leben zu entwerfen. Auch bin ich mir sicher, dass man in diesem Training fachmännisch in alle grundlegenden Skills eingearbeitet wurde, die zur Realisierung dieses Plans zählen und einem* zu dem Menschen* machen, der* aus gesellschaftlicher Sicht als nicht gescheitert, sondern erfolgreich und letzten Endes als dazugehörig anerkannt wird. Nach Abschluss dieses Trainings könne man* quasi gewissenlos ins Leben aufbrechen, ohne dass man* jemals wieder in eine Situation von Verunsicherung geraten würde. Klingt einfach, so umsichtig und gestärkt losgeschickt zu werden auf die Lebensreise, doch schlussendlich habe ich die Befürchtung, dass man schon schnell auf der Insel der Spießigkeit strandet. Aber: Ist es das, was ich will?

Quelle: giphy.com


Alle, die an dieser Stelle mit Nein oder weiß nicht reagieren, sind womöglich diejenigen, an denen genauso wie an mir die Einladung zu diesem besagten Trainingsunterricht vorbeigegangen ist. Hallo an dieser Stelle. Ihr seid nicht alleine.

Und was mich betrifft, scheint diese Trainingsstunde immer zu Zeitpunkten stattgefunden zu haben, an denen ich physisch und geistig nicht anwesend war. Mich jedenfalls hatte niemals irgendein Flyer oder eine personalisierte Einladung erreicht. Vielleicht hatte mein feindseliger Nachbar eine Absprache mit dem ebenfalls feindseligen Briefträger getroffen, mir die Einladung zu unterschlagen, um sich einen Scherz zu erlauben, der – ungeahnt – verheerende Folgen haben würde. Tja, ich wusste schon immer, dass die beiden in verschwörerische Machenschaften verstrickt waren. Und selber waren sie möglicherweise frustriert, da sie den eigenen Plan vom eigenen Leben nicht umsetzen konnten oder mit ihrem Leben auf der Insel der Spießigkeit doch nicht so ganz häppy waren. Das sind Mutmaßungen. Aber wie dem auch sei. An meiner Theorie scheint etwas dran zu sein. Anders zumindest kann ich mir die Diskrepanz zwischen meinem und den Lebenskonzepten vieler anderer Menschen nicht erklären.

The Future (2011) | Quelle: giphy.com


Vielleicht habe ich ja als Kind auch nur zu lange wach bleiben dürfen, oder zu viel Spülmittel getrunken, wenn meine Eltern mal nicht hinsahen, weshalb sich die notwendigen Hirnareale für die Planung des Lebenskonzeptes nicht weiter ausbilden konnten?! Ich weiß es nicht. De facto steht jedenfalls fest: Ich habe keinen Plan, kein Konzept, nein, nicht im geringsten Sinne auch nur irgendeine Ahnung, wie ich in zehn Jahren leben werde und das war tatsächlich immer schon so. All das, was ich heute tue, ist nicht von einer übergeordneten Zielsetzung überspannt. Es blinkt höchstens ein Nahziel von drei vier Wochen, maximal zwei Jahren am Horizont meiner Vorstellungskraft. Einige würden diese Einstellung möglicherweise als töricht, naiv oder unterbelichtet bezeichnen. Andere wiederum schätzten diese Tatsache vielleicht ja aber auch als die absolut erstrebenswerte Freiheit ein? Gut möglich. Irgendetwas Faszinierendes hat dieser gesellschaftliche Mechanismus des Pläneschmiedens jedoch an sich, weshalb ich seinem Ursprung mal genauer auf die Schliche kommen möchte. Am besten geht es durch die Methode der Beschreibung.

Quelle: giphy.com


Ich habe den Eindruck, dass die Menschen morgens aufstehen, in den Spiegel schauen und sich sagen: Jeden Tag ein bisschen mehr von meinem Lebensplan umgesetzt. Mehr oder weniger bewusst, versteht sich. Ein guter Job, eine Ehe mit einem*r adäquaten Partner*in, ein Eigenheim mit Grünfläche, aber direkter Autobahnanbindung, damit man auch rasch da hinkäme, wo das Leben spielte und natürlich ein intaktes, nachhaltiges Familienleben mit jeder Menge Sprösslinge, den Großeltern gleich um die Ecke als potenzielle Babysitter und einem kackfarbenen Minivan, um die regelmäßigen Hamster-Großfamilieneinkäufe zu händeln und in den Schulferien mit der ganzen Sippschaft in Urlaub zu düsen? So oder ganz anders vielleicht und man kommt wirklich ins Stutzen, wenn man annimmt, dass derlei Ereignisketten im Leben der anderen Zufall seien. Ernsthaft! Ich denke, sie sind in langer Vorausschau so oder mindestens so ähnlich gewollt. Das Leben erscheint wie eine Wettervorhersage. Recht berechenbar.

Krasse Lebensstrategie, nicht wahr?  Umso krasser, dass das bei vielen Menschen ad hoc so zu funktionieren scheint. Und schnell gelange ich zu der Frage: Was ist eigentlich mit mir und meiner Strategie fürs erfolgreiche Leben los?

Quelle: giphy.com


Was für ein Glück ist es, in Zeiten wie diesen geboren, groß geworden zu sein.

„Ich habe damals gedacht, dass es wichtig sei Kohle zu haben, gut zu funktionieren um zu beweisen, dass Familie und Beruf gut miteinander zu  vereinbaren sind für eine Frau. Aber heute sehe ich, dass ich dafür einen hohen Preis gezahlt habe. Ständig maßlose Power,  um alles zu meistern und zu wenig Zeit für euch.“

Das sind die Worte meiner Mutter, die ich vor kurzem in einer E-Mail von ihr lese. Wie edel und reif. Das muss wohl das Alter sein, das eine*n dazu befähigt, Erkenntnis in sinnvoller Weise in Worte zu kleiden. Ich bin mir sicher, keine Ahnung von dem, was sie dort schildert, zu haben, auch wenn ich verstehe, dass sie es wie eine Art Warnung an mich richtet. Okay, Mama. Ist angekommen. Ich versuche nicht zu viel wertvolle Zeit für sinnlose, entfremdete Arbeit zu verschwenden, sofern es mir möglich ist in unserem System des Wirtschaftens und Zusammenlebens.

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roterfaden

Quelle: pixabay.com


Während Freundinnen und Bekannte in meinem Alter damit beginnen, sich auszumalen, wie es sich anfühlen wird ein Baby aus seinem Becken zu pressen und bei dawanda DIY-Näh-Anleitungen für Babystrampler zu downloaden, sitze ich vor meinem PC und erkundige mich nach Fortbewegungsmöglichkeiten für eine Campingtour durch Südtirol oder google nach neuen nebenberuflichen Weiterbildungen oder nach youtube-Videos zum Thema Selbstständigkeit.

Vielleicht sollte ich mir ein Beispiel an diesen ganzen tollen Menschen nehmen, die es geschafft haben, irgendwas mit Medien oder Finanzen zu machen und damit seriöserweise ihren Lebensunterhalt finanzieren.

Quelle: giphy.com


Ich hätte mir mit meinen kreativen Ergüssen eigentlich schon lange etwas Professionelleres aufbauen können, als via wordpress einen Blog für meine Freund*innen zu schreiben. Ich hätte schon längst auf den Zug der bloggenden Hipster-Girls aufspringen sollen, vielleicht würde ich jetzt in Berlin in einem stylischen Büro eines Hochglanz-Online-Magazins für schwedisches Wohnrauminterieur sitzen und nebenbei Muffinbücher über Amazon herausgeben. Aber nein, es ist alles ganz anders gekommen. Und alle und am wenigsten ich hätten das gedacht. Trotz meines weisen Alters von 31 Jahren erscheint mir das permanente Auflesen des rotes Fadens in meinem Leben ähnlich aussichtlos wie auf die Lösung einer algebraischen Matheaufgabe zu kommen. Es fällt mir wahrlich schwer, zu formulieren, was denn nun überhaupt – so ganz konkret – meine Ziele im Leben sind. Kurzum: Da wo andere die Einzelstationen ihrer Landkarte des Lebens erfolgreich wie bei einem Solo-Staffellauf abrasen, sitze ich in einem dilettantisch selbstgebauten Katamaran und paddele voller Eifer und Neugierde den Flusslauf des Lebens entlang, ohne zu wissen, in welches Gewässer dieser Strom eigentlich mündet. Manche haben in solchen Situationen eine App auf ihrem Smartphone. Ich frage mich, gibt es auch eine Lebenskompass-App? An dieser Stelle ist nämlich mein App-Store tatsächlich leer.

Quelle: giphy.com


Ich paddele einfach mal so ins Blaue. Mit Urvertrauen. Das ist ja schon einmal die halbe Miete für ein mindestens temporär zufriedenes Leben.

Resümierend: das Leben hat voll zugeschlagen. Ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn Wasser in mein Bötchen platscht und auch, wie man es wieder herausschöpft. Ich bin weitestgehend sowohl finanziell als auch ideell unabhängig.

Und während sich die Menschen und Bedingungen allmählich zu ändern scheinen und alle plötzlich ihre hochgestochenen und schier überirdischen Lebensziele wie aus dem Nichts aus ihren Schubladen ziehen, um sie nun nach feierlichem Akt in Gedenken an die „wilden Zwanziger“ in die Tat umzusetzen, fühlt es sich in meiner Haut immer noch an wie früher, als ich 17, 20, 25 Jahre alt war und mit dem Gedanken aufwachte: Die Sonne lacht mir ins Gesicht, alle Türen der Welt stehen mir offen und ich brauche keinen roten Faden.

Wie Weisheit der Frances Ha | Quelle: giphy.com


Und an manchen Morgen wache ich auf, schaue in den Spiegel und sage: Mein persönliches fulfillment ist es, planlos zu sein. Und das macht mich zumindest für den einen und anderen Moment sehr glücklich.

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