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  • AutorenbildJules Cachecoeur

Die Zukunft der Arbeit ist die Zukunft der Liebe.

Manchmal weiß ich gar nicht so genau, was ich schlimmer finde: einen Menschen zu lieben, der diese Liebe nicht erwidern kann oder die Liebe zwischen zwei Menschen, die aufgrund gesellschaftlicher Bedingungen nicht zusammen sein können. Fest steht jedenfalls, dass in beiden Konstellationen Liebe und Leid nahe beieinanderliegen und viel Zeit ins Land gehen muss, bis die Liebenden dieses künstliche Ende ihrer Liebe einigermaßen überwunden haben.

Frank Dicksee_Romeo Julia

Quelle: odysseetheater.org


In unserem säkularisierten, demokratischen Wohlfahrtsspeckgürtel haben wir ja nicht unbedingt mehr das Problem, unsere Liebe aufgrund von Gesellschaft verheimlichen oder unterdrücken zu müssen, da sie gegen bestimmte gesellschaftliche Normen verstößt. Offensichtlich sind wir frei und können tun und lassen, was wir wollen. Das ist doch so, oder? Nehmen wir als Beispiel Romeo und Julia. Sie durften nicht zusammen sein, weil ihnen dies durch die soziale Position ihrer Herkunftsfamilien nicht erlaubt war. Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ermöglichten den beiden Liebenden kein Zusammenkommen, zumindest nicht außerhalb eines luftleeren Raums. Es gibt einige dieser Geschichten; sie bilden die Realität einer längst vergangenen Zeit ab.  Es lassen sich zwar – je näher man der Jetztzeit kommt – Sujets in der Literatur und in der Kunst aufspüren, die tatsächlich für Schübe des sozialen Wandels sprechen, aber dieser bleibt zumindest bis in die Nachkriegszeit eher marginal. Vielen Romeos und Julias war das Ausleben ihrer Liebe zueinander im öffentlichen Raum untersagt. Das öffentliche Zeigen ihrer Liebe beispielsweise als Paar Hand in Hand zu gehen, wurde gesellschaftlich nicht anerkannt oder gar bestraft. Vielleicht war das Unerreichbare hier auch Motivator zur Etablierung des romantischen Liebesideals?

Das Liebespaar versus Individualismus

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Quelle: giphy.com


Viele sind doch der Annahme, dass wir solche Dinge zumindest als Normalsterbliche in unseren westlichen Gefilden weitestgehend überwunden haben. Unsere Liebe hat auch milieuübergreifend eine Chance bekommen und kann gelebt werden, auch wenn dies nach wie vor oftmals mit herausfordernden Kämpfen – ausgetragen von den Individuen selber – verbunden ist. Würden Romeo und Julia heute leben, sie könnten zumindest aus gesellschaftlicher Sicht ihre Liebe frei und offen praktizieren, ja, möglicherweise wären sie gar verheiratet und lebten in einem Durchschnittsreihenhaus mit einem Durchschnitts-Golden-Retriever und hätten ein 1,39-Durchschnittskind. Sie lebten endlich den Traum der letzten Jahrhunderte: Das Leben nach dem Happy-End. Ohne Stolpersteine. Ohne Kompromisse. Wirklich. Wirklich? Aber was, wenn da der Job dazwischenkäme?

Gemäß dem Fall, dass Romeo nach seinem Studium der Informatik ein unschlagbares Jobangebot mit den besten Karriereaussichten in München bekäme, wäre es nur eine Frage der organisatorischen Abwicklung, wie er den Umzug seiner Familie, das Abreißen aller Zelte zustande brächte.  Und gemäß dem Fall, dass Julia ein Jahr nach der Geburt des gemeinsamen Kindes gerne wieder in ihrem Beruf als Biologin zu arbeiten vermag, stünde sie nun vor der Herausforderung, in München auch eine passende Stelle zu finden. Möglicherweise müsste sie einige Monate der Suche nach einer Stelle in Kauf nehmen. Möglicherweise erschiene ihr diese Wartezeit als unbefriedigend und sie hätte zudem das Gefühl, wichtige berufspraktische Dinge zu verpassen und kinderlose sowie männliche Kolleg*innen an sich vorbeiziehen zu sehen. Möglicherweise führe dies zu persönlicher Unzufriedenheit, was wiederum Auswirkungen auf ihre Stressresistenz im Kontext ihrer neuen Aufgabe als erziehende Mutter haben könnte. Aber auch die Beziehungsqualität zwischen ihr und Romeo, die schon durch die neue Elternschaft und durch den umzugsbedingten Wegfall eines unterstützenden, sozialen Netzwerkes auf die Probe gestellt wird, kann beeinträchtigt sein durch Julias miese Laune. Soviel also zum Leben nach dem Happy-End. Das ist die Realität.

Happy-End im Wohlfahrtsspeck

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Quelle: giphy.com


Eine andere Situation ergäbe sich gemäß dem Fall, die beiden hätten sich in Anbetracht Romeos Jobchance gegen die Geburt des gemeinsamen Kindes entschieden. Romeo wäre möglicherweise alleine nach München gezogen, da Julia ihre Stelle in einem Forschungsinstitut in Hamburg behalten hätte. Beide hätten sich nach Abwägen der ökonomischen Randbedingungen dagegen entschieden, ihre Beziehung weiter aufrechtzuerhalten, ganz gleich, wie viel Liebe sie einander empfänden. Ihre Zuneigung zueinander wird zugunsten praktischer Gesichtspunkte gekappt, als sei es das Normalste der Welt. Individuelle Bedürfnisse fallen dem Primat der Arbeit zum Opfer. Nicht mehr Gesellschaft, sondern ökonomische Zwänge stellen der Liebe heutzutage ein Beinchen.

Geschichten, wie diese beispielhafte von Romeo und Julia in Zeiten der Arbeitsmarktmobilität, kann ich zur Genüge aus eigener Erfahrung und aus dem Nähkästchen von Freund*innen und Bekannten berichten. Es ist immer das Gleiche: Job, Karriere (was auch immer das sein mag), Selbstentfaltung geht vor Liebe, Verantwortung und Verbindlichkeit. Denn irgendwo da draußen warten so viele mögliche Lieben, dass die Unterbrechung dieser einen nicht größer ins Gewicht fällt.

Die allgemein verbreitete These, dass sich heutzutage das Drama um Romeo und Julia in unserem liberalen, gesellschaftlichen Setting nicht mehr so zutragen würde, muss bedauerlicher Weise widerlegt werden. Liebe ist heute auf andere Weise bedroht: Nämlich von den liebenden Subjekten selber, deren Handlungen und Entscheidungen das ökonomische Kalkül zugrunde liegt. Trennungen entstehen insbesondere in jüngeren Generationen in bestimmten sozialen Milieus aufgrund eines inkorporierten Karriereimperativs. Beruflicher Aufstieg, Selbstentfaltung und die Fusion von Arbeits- und Lebenssphäre stehen im Widerspruch zum Lebensentwurf gemäß des romantischen Liebesideals. Wir trennen uns, obwohl wir uns lieben, um uns zu trennen, obwohl wir uns lieben. Was für eine pessimistische Kette an im Keim erstickten schönen Geschichten.

Vom Trennen und Lieben und Trennen

theodor fontane irrungen wirrungen

Und nun? Was sagt das über uns und unsere Zukunft aus? Welche Alternativen bieten sich? Als erstes wäre es doch vielleicht angebracht, Courage zu beweisen und mutig zu sein – trotz oder gerade wegen der beschriebenen Ausgangslage. Es kann nicht immer nur Grund Nummer eins für die gesellschaftliche Akzeptanz eines freiwilligen Abreitsaustritts oder des Wegzugs in eine andere Stadt aufgrund einer verheißungsvollen Karrierechance sein, wenn familiäre Verpflichtung wie Kinder ins Spiel kommen. In Zeiten veränderter, diversifizierter Formen des Zusammenlebens, muss der Begriff Familie neu definiert werden. Zu Familie können auch Menschen zählen, mit denen wir nicht verwandt sind, denen wir aber den gleichen Status eines Onkels, einer Tante oder einer Schwester oder einem Bruder zuordnen. Neben dem*der Liebespartner*in ist also diese frei gewählte Familie ein wichtiger Bestandteil im Leben eines Subjektes und umspannt es mit einem sozialen Netz, das Sicherheit und Kraft stiftet und in erheblichem Maße einen Einfluss auf Gesundheit und Lebensqualität hat. In Anbetracht der Zelte, die man sich an einem Ort, an dem man lebt, aufbaut,  erscheint der Abbruch einer Liebe, das Zurücklassen dieses sozialen Kreises für einen Job im fremden Irgendwo ziemlich übergeschnappt, oder? Ich habe leider keine Lösung für dieses beschriebene Problem. Ich beobachte nur, dass Menschen auf diese Weise nicht glücklich werden, sondern ihr biografisches Kohärenzgefühl, das sehr wichtig für das Gefühl von Selbstwirksamkeit und Identität ist, aufs Spiel setzen.

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Quelle: giphy.com


Romeo und Julia wählen am Ende den Freitod, da der gesellschaftliche Druck unerträglich wird. Nach der Offenbarung ihrer Liebe gibt es kein Zurück mehr. Für heute gilt anderes: Mal vom dramatischen Motiv des Freitodes abgesehen, sollte man die Energien, die man heute in berufliches Weiterkommen steckt, koppeln an die Liebe. Kurzum: Wir sollten weniger Kompromisse in der Liebe und mehr im Beruflichen machen, wenn wir längerfristig glücklich leben möchten. Wir sollten die Beziehungen in unserem sozialen Kreis pflegen und mutiger sein, etwas für die Liebe zu riskieren, weil wir damit in Zeiten der ökonomisierten Biografiearbeit ein Exempel statuieren und andere Menschen vielleicht darin ermutigen, ähnlich zu handeln. Eine berufliche Aussicht ist und bleibt nur eine berufliche Aussicht, die immer mit der Möglichkeit des Scheiterns verbunden ist. Und was bringt es uns dann in einer fremden Stadt zu sitzen und uns daran zu erinnern, was wir für all das aufs Spiel gesetzt haben? Diese ganzen Geschichten, die niemals geschrieben, niemals erzählt wurden. Es wäre zu schade darum, denn das ist es doch, was uns ausmacht.

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Frida & Diego | Quelle: giphy.com


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