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  • AutorenbildJules Cachecoeur

Du hast Chauffeur? Isch hab Polizei.

Wenn ich einmal genauer darüber nachdenke, was das Wort Freiheit eigentlich bedeutet und inwiefern ein Leben in Freiheit trotz unserer demokratischen Lebensbedingungen hier inmitten des Speckgürtels der Welt möglich ist, dann werde ich etwas sentimental.

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Quelle: giphy.com


Früher, als ich klein war, hielt ich Pippi Langstrumpf oder Peter Pan, erfundene Charaktere in Kindergeschichten, für die Personen schlechthin, die ein Leben in Freiheit genossen. Pippi Langstrumpf beispielsweise lebte von den Goldvorräten ihres Seeräubervaters, während Peter sich in einer geldlosen Welt mit Abenteuern die Zeit vertrieb und in fremde irdische Kinderzimmer eindrang. Mal davon abgesehen, dass er möglicherweise hier den einen oder anderen Wertgegenstand mitgehen ließ (Altaa, klar, erinnert euch doch mal an die Murmeln), war er doch ein freies Geschöpf. Und er konnte fliegen. Und was mache ich stattdessen, hier in der echten Welt? Also nicht, dass ich kleptomanische Neigungen hege, nein. Und ich habe auch nach wie vor extreme Flugangst und kann deshalb gerne auf den Feenglanz verzichten, der Wendy und ihre beiden Brüder zum Fliegen bringt.

Auf der Suche nach meinem persönlichen Takatuka-Land.

Doch vielleicht genau wegen meiner fehlenden anarchischen Gene habe ich das Gefühl, nicht das zu tun, was ein wirklich freier Mensch tun würde. Ich habe das Gefühl, dass ich lange Zeit auf diese Lebenssituation hingearbeitet habe und nun feststelle, dass ich mich durch all die Jahre im Bildungssystem nicht unbedingt freier, sondern vielmehr unfreier gemacht habe. Von gesellschaftlichen Normvorgaben des Lebens, tausendfach gebündelte Rollenerwartungen, vom Wirtschaftssystem und dessen zermürbende Logik, die – zumindest in dieser Realität – über allem steht.

Du kannst studieren, soviel du willst, du wirst dadurch vielleicht nicht unbedingt schlauer, aber sicherlich reflektierter und demzufolge schmerzhafter wird auch die Einsicht, nach wie vor ein unfreies Dasein in einem Lebensmodell mit hölzerner Starrheit zu fristen. Das Dahinvegetieren, wie ich es bei so manch einem beobachten kann bzw. muss; Festgefahrenheit, es ist eine verlockende Fährte, die sich da aus dem Nichts auftut. Ein Leben zum Zurücklehnen. Ja, geil. Ich befinde mich zurzeit zwischen zwei Extremen. Nämlich zwischen der kompletten Loslösung aus traditionalen Lebensschablonen und dem Einnisten in solide, altbekannte berufsbiografische Idealverläufe. Vielleicht muss ich mich entscheiden für eines, oder nicht? Ich lerne durch Begegnungen mit sehr unterschiedlichen Menschen so viele alternative Lebenswege kennen, die zwar im Vergleich zu einem gediegeneren Leben auch mehr ökonomische Unsicherheiten bergen, aber eben auch mit einem höheren Maß an Selbstgestaltbarkeit, Autonomie und somit Lebensqualität verbunden sind. Zumindest behaupte ich das jetzt ganz einfach mal.

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Bladerunner | Quelle: giphy.com


Es ist Donnerstagmittag und ich reise von der einen (der alten) Welt zurück in meine neue nach Magdeboogie. Dank eines recht populären Mitfahrgelegenheitsportals kann ich mich von Düsseldorf in das Auto eines mir noch fremden Menschen setzen, der mich wünschenswerterweise sicher gen Osten fliegt. Sein Name ist Mattia*, er ist 26 und arbeitet für ein ebenfalls recht populäres Mietwagenunternehmen als Fahrzeugüberführer. Seine Route an diesem Tag, so erzählt er mir, gleicht einer neverending Story: Zuerst geht es von Düsseldorf nach Magdeburg und dann von Magdeburg zurück ins NRW-Glück. Von dort aus dann ohne Pause wieder nach Magdeburg, um dort einen weiteren Wagen hinzuschaffen. Von da aus hat er dann noch eine Bahnfahrt nach Berlin vor sich, wo er dann hoffentlich nicht allzu spät in sein Bett sinken kann. Was ihm für morgen dann bevorsteht, das verrät er mir nicht (so weit kommen wir nicht), doch ich nehme an, eine ähnliche Route. Insgesamt soll er jedenfalls dann an diesem Donnerstag noch bis zwei Uhr unterwegs sein. Wenn alles gut läuft. Wir plaudern so mir nichts dir nichts drauf los, man hat ja nichts zu verlieren, außer vielleicht die Fahrtzeit als Teil der Gesamtlebenszeit und deshalb kann man sich diese einigermaßen nett vertreiben. Das denken wir uns beide wohl und auch wenn ich seine Einladung, in seine Kiosk-Naschtüte mit gezuckertem Weingummi zu greifen, kurzerhand verschmähe, habe ich das Gefühl, dass wir uns doch sehr erträglich finden. Zumindest interessant, sonst würde kein dreieinhalbstündiger Gesprächsfluss zustande kommen. Mattia ist ein Mann, mit dem ich mich in meinem Alltag – ob nun in meiner neuen oder in meiner alten Welt – möglicherweise niemals so unmittelbar und ungestört unterhalten hätte, zu unterschiedlich sind unsere Lebensstile, mal ganz zu schweigen von der unterschiedlichen Lage unserer Wohnorte. Und doch scheinen wir eine ganz elementare Gemeinsamkeit zu haben: Wir lieben Menschen. Deshalb ist er auch direkt zu Anfang der Fahrt mit völliger Inbrunst dabei, meine berufliche Tätigkeit zu erraten. Seine Neugierde treibt ihn an. Nachdem wir alle für ihn erforderlichen Details zu meiner Person erfolgreich abgegrast haben, legt er los und ich finde heraus, dass das, was er hier mit diesen Karren macht, bloß ein Nebenjob ist. Denn hauptberuflich, und da muss ich zugegebenermaßen staunen, ist er Polizist in Berlin. Ich will wissen, ob man als Polizist denn so wenig verdiene, dass man sich noch etwas dazuverdienen musste und er erklärt, dass er plane, bald Eigenheim zu haben. Ein Haus mit Garten und dem Üblichen, was man sich eben so als freier Mensch in einer Wohlstandsgesellschaft vornahm. Und hierfür müsse er sparen, deshalb die doppelte berufliche Einbindung.

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Quelle: pixabay.com


Nachdem er sich also als absoluter Workaholic geoutet hat, resümiere ich innerlich und bin beeindruckt von seinem Motiv, das ihn dazu bewegt, seine komplette Freizeit freiwillig wegzurationalisieren. Und wieder sehe ich eine Parallele zwischen Mattias und meiner Persönlichkeit: Wir beide sind völlig unbremsbare Duracell-Häschen, die immer etwas zu tun haben müssen und sich stets neue Projekte zur Umsetzung suchen.

Mein batteriebetriebener Geist.

Es ist nicht ungewöhnlich, nein, es ist ein mich häufig ereilendes Phänomen, dass Menschen mir sehr persönliche, ja gar intime Dinge anvertrauen. Ich liebe das. Ich liebe Lebensgeschichten und ich mag es, wenn Menschen sich losmachen und Gefühle zulassen. Denn auch das ist ein Stück Freiheit. Jedenfalls tut uns beiden diese sehr offene – da zumindest zwischenmenschlich ziellose – Unterhaltung ziemlich gut. Irgendwann reden wir tatsächlich darüber, was für ein Gefühl es sein muss, per Haftbefehl gesucht zu werden, dass unsere Mütter uns altersunabhängig wohl immer fragen werden, wann man am Abend nach Hause käme, wenn man gerade mal wieder zu Besuch in der Heimat war und auch sprechen wir über Liebe, Beziehungen und letztlich über den Weltfrieden. Und das alles in einem niegelnagelneuen Sprinter, auf dessen Armaturen noch die Plastikfolie klebt. Mattia hat nämlich eine ziemlich bewegte Geschichte. Als ehemaliger Soldat war er für drei Monate in Afghanistan in einem internationalen Camp stationiert. Er wolle jetzt keine Gruselgeschichten aus dem Krieg erzählen, sagt er, denn wirklich Schlimmes sei ihm nicht widerfahren, doch eine Sache hätte sich ihm ins Gedächtnis gebrannt.

Quelle: giphy.com


Es hätte einen Amerikaner in dem Camp gegeben, der zum Zeitpunkt, an dem Mattias Erzählung ansetzt, nur noch vier Tage Dienst an der Front dort in Afghanistan zu leisten hatte. Die amerikanischen Soldaten, so erzählt Mattia, hätten, anders als die deutschen, nicht einen dreimonatigen, sondern einen zwölfmonatigen Einsatz wahrzunehmen. Ich schlucke. Das bedeutet, dass man* ein ganzes Jahr lang 24 Stunden einen munteren Geist an den Tag legen musste. Kein Urlaub, kein Seelebaumelnlassen. Einfach Einsatz. Krieg war nichts für Angsthasen, sondern für Duracell-Hasen. Ich frage ihn provokant, ob er diese Art von Betätigung nicht auch für eine andere Art von Prostitution halte und er verneint entschlossen, ohne sich jedoch von mir auf den Schlips getreten zu fühlen. Das Soldatsein ist eine Berufung für ihn. „Als ich am Militärflughafen in Afghanistan ankam und die Raketen über unsere Köpfe schossen, da hab‘ ich mich gefreut. Endlich richtig Krieg und nicht nur eine nervige Übung.“

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Ich begreife, dass Mattia sich mit der Mentalität der Bundeswehr identifiziert. Und ich respektiere dies, denn ich habe ihn hier, in dieser Welt, in dieser Mitfahrsituation im leeren Sprinter zwischen seichter Einslive-Musik und einer gemischten Tüte vom Büdchen umme Ecke als herzlichen, gutmütigen, humorvollen und homophilen Menschen kennengelernt. Und er hat sich freiwillig für den Kriegsdienst im Krisengebiet entschieden. „Du bekommst ja gleich zu Beginn deiner Bundeswehrzeit so einen Wisch, auf dem du darüber aufgeklärt wirst und du beantworten musst, ob du bereit bist dafür.“ Er wirkt reflektiert und überzeugt von den Dingen, die er tut und hat wohlbemerkt nicht studiert. Das ist offensichtlich seine Art der Selbstentfaltung. Ich frage mich, ob man ihn als wirklich frei beurteilen kann oder ob er nicht doch ein Opfer des Systems und daher als unfrei zu bezeichnen ist.

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Der Amerikaner im Camp in Afghanistan, der nach einem Jahr Kriegszustand nun kurz vor seiner Abreise stand, verkündete zu einem kameradschaftlichen Umtrunk, dass er sich freuen würde auf die Heimat. Mattia muss nicht ein einziges Mal innehalten, während er das so erzählt. „Und dann, vier Tage später hat man ihn gefunden. Erschossen im Dixiklo. Selbstmord.“ Keiner von den Jungs vor Ort hätte das nachvollziehen können, denn er war doch so voller Vorfreude auf zu Hause. Ich möchte Mattias Vermutung erfahren, was den Mann damals dazu getrieben haben könnte, auch angesichts der Umstände. „Vielleicht hat seine Frau ihm kurz davor verkündet, dass sie zu Hause einen anderen kennengelernt hat? Ich weiß es nicht. Es ist aber nicht ungewöhnlich. Ist einigen passiert, die ich da kennengelernt habe.“ Ich bin berührt. Und auch, wenn Mattia die Geschichte einleitet mit den Worten, es handele sich um kein schlimmes Erlebnis, so merke ich, dass selbst er, der sich die meiste Zeit der Strecke emotional abgeklärt gibt, ebenfalls berührt ist. Schon allein, weil er mir davon erzählt.

Einerseits wirkt Mattia wie ein Junge, wenn er von seiner Liebe zu seinen Eltern, seiner Freundin, von seinem Alltag in seiner Junggesellenwohnung und seinen Kumpels auf der Arbeit berichtet. Diese jungenhafte Leichtigkeit seiner Persönlichkeit wird jedoch durchbrochen von dieser sehr stringenten und erwachsen aufgeräumten, geschlechter- und berufsrollenkonformen Lebensweise. Eine Drogen-Razzia in einem Berliner Stadtteil, ein Einsatz in einer Messiewohnung, in der irgendwo auf dem Grund des Wohnzimmers unter Müllbergen eine tote Katze gefunden wird, die offensichtlich schon so lange tot ist, dass sie eins mit dem Teppich geworden war. Das ist Mattias Alltagsleben in Ausschnitten.

Vorsicht, nicht über die Freiheit stolpern!

Seine Erzählungen, seine Erscheinung, seine zuverlässige und entschlossene Art, das alles hat in meinen Augen etwas Tragisches und ich fühle mich plötzlich in der Gestaltbarkeit meines Lebensentwurfes so selbstwirksam agierend. Weil ich mir die Freiheit nehme, die mir dank dieser sicheren Lebensbedingungen um mich herum einfach so vor die Füße gelegt wird.

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Ich bin froh und traurig zugleich darüber, dass ich Mattia während unserer Fahrt nicht in die Augen sehen konnte. Zu gern hätte ich das menschliche Funkeln darin erfahren. Vielleicht wäre uns aber auch die Möglichkeit dieses sehr persönlichen und freien Gesprächs vorenthalten worden?! Dieser Sprinter war für ganze vier Stunden unser gesellschafts- und zeitloses Vakuum.

Mit einem Lächeln trete ich durch die Wohnungstüre und bin froh, dass ich wieder hier bin in meinem selbstgewählten Leben.

Mein Takatuka-Land hier in Magdeburg.

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