IN DER STEINZEIT GAB’S KEIN PATRIARCHAT.
- Jules Cachecoeur
- 29. Aug. 2016
- 6 Min. Lesezeit
Eine ordentliche Anzahl an Menschen (das weibliche Geschlecht ist deutlich in der Überzahl) ist am 9.4.2016 um 18:30 Uhr in dem kleinen Veranstaltungsraum der Universitätsbibliothek in Magdeburg zusammengekommen, um dabei zu sein, wie Anke Domscheit-Berg aus ihrem neusten Buch „Ein bisschen gleich ist nicht genug! Warum wir von Geschlechtergerechtigkeit noch weit entfernt sind. Ein Weckruf“ vorliest. Mir scheint, es wäre die gesamte feministische Szene Magdeburgs zusammengekommen, aber das ist nur so ein Eindruck. Jedenfalls ist der Raum proppevoll, es wird vorab viel geplaudert und nach einer langen, informationsintensiven und lobpreisenden moderierenden Einführungslaudation der Leiterin des Frauenzentrums Courage im Volksbad Buckau zur Lesung von Anke Domscheit-Berg, führt die dann doch recht sterblich wirkende Autorin ein in den Abend.

Anke Domscheit-Bergs neues Buch, erschienen im Heyne-Verlag
Mit Anfang zwanzig wisse man nichts von der harten Realität, diese Beobachtung macht Anke Domscheit-Berg immer wieder bei den meisten jungen Managerinnen, die sie als Coacherin in der Wirtschaftsbranche betreut. Man werde ins Haifischbecken geschubst und müsse sich da wie Rambo selber durchschlagen. Deshalb ist es wichtig, junge Frauen zu sensibilisieren und vorzubereiten auf subtilen und weniger subtilen Alltagssexismus, der ihnen früher oder später durch Kolleg*innen und Branchenakteur*innen zuteilwird. Domscheit-Berg geht es um Empowerment, das vertritt sie deutlich in ihrer Lesung.
Wenn ich mal groß bin, werde ich Rambo.
Schnell geraten durch ihr authentisches Auftreten die Anleihen des durch die Anfangsmoderation durchgedrungenen konservativen Feminismus in den Hintergrund und mit Blick auf das Anliegen, welches Domscheit-Berg mit ihrem Buch verfolgt, ist man gespannt auf die zeitgemäßen Inhalte, die einem nun geboten werden. Sie strukturiert die Lesung, indem sie einen ähnlichen Ordnungszusammenhang schafft wie in ihrem Buch: Zuerst erklärt sie ihre Vorgehensweise mit evidenzbasierten Fakten/Deskription von Ist-Zuständen, um im Anschluss überzugehen in eine Reflexionsphase in Form einer Diskussionsrunde. So dienen ihr für ihre Argumentationsfenster, die sie in ihrem Buch eröffnet und in der Lesung vorstellt, stets erst einmal statistische Daten über Ungleichheitsphänomene in unterschiedlichen Bereichen unserer Gesellschaft als Fundament, um anschließend daran die Aktualität von Feminismus zu verdeutlichen und schließlich Handlungsstrategien zu entwickeln.

Anke Domscheit-Berg, cc by Julia Tham
Dabei lässt sie kein Feld aus: Von der Wirtschaft geht sie über zu Politik, zu den Medien und der Wissenschaft, ja gar der Kulturbranche, die gleichberechtigungsdefizitären Strukturen in allen Bereichen dieser Gesellschaft werden veranschaulicht und teilweise gleich mit einer direkten Kritik versehen. Sexismus eigne sich nach wie vor oder jetzt erst recht als Wirtschaftsmotor, nach dem Frauenkörper einer Objektifizierung mit folgenschweren Ausmaßen unterzogen werden. Domscheit-Berg erinnert nur an die soziale Irritation, die durch den Tausch der Rollen zwischen den beiden Geschlechtern ausgelöst werde, wie es in einem Fernsehbeitrag über geschlechterstereotypisierende Werbespots exemplarisch dargelegt wurde. Und auch, dass das Frauenkörpernormativ einen nicht geringen Einfluss auf bestimmte psychische Krankheitsbilder wie Essstörungen habe, ist auch keine Mär‘. Schon das Aussehen der Barbiepuppen habe eine fundamentale Wirkung auf die Schönheitsideale junger Mädchen und erzeuge einen subtilen Zwang zu Schönheit, vor dem die Jungen zumindest weitestgehend gefeit seien. Letzterer Annahme muss ich – denkend an Prototypen wie Wolverine, dem A-Team und Hulk, alles tollkühne, aggressionsgeile Kandidaten bestehend aus Muskelbergen – widersprechen. Die mediale „heteronormative Verhaltenslenkung“ betrifft beide Geschlechter bereits in der Kindheit und ist wiederum ein Hinweis auf die soziale Konstruktion des Geschlechtes. Auch finde ich Figuren, die den Mädchen als Idole dienen, die dieser Norm widersprechen. So denke ich an Xena, die tapfere und männlich attribuiert handelnde Kriegerprinzessin, an Pipi Langstrumpf, an die rote Zora, an Momo oder Clarissa, um nur einige Beispiele von Idolen mit nicht eindeutig weiblich attribuierten Eigenschaften zu nennen, aber Ausnahmen sind ja bekanntlich der Anlage einer Regel immanent.
Xena gegen den Rest der Welt
Domscheit-Berg schaut auch genauer bei den Frauen in der Film- und Theaterbranche hin, wo sich seit der Antike wahrlich ein Trauerspiel nachzeichnen lässt, so verkümmert sind hier die Gleichberechtigungsentwicklungen. Ein leises Raunen geht durch den Saal in dem Moment, indem Domscheit-Berg verkündet, dass trotz Bürger- und Staatsinvestitionen und des gesellschaftlichen Auftrags der öffentlich Rechtlichen, Frauen, die Regie bei einem Tatort führten, nahezu an einer Hand abgezählt werden könnten. Tja, Leute, das ist die Realität und nur, weil man selber bis heute nicht direkt von diesem Missstand betroffen war, heißt es noch lange nicht, dass es mit einer Quoteneinführung getan ist, schließlich handelt es sich hier um verkrustete Strukturen, jahrhundertelang gewachsene oder qua Gründung bestehende Gerüste. Wie die jungen Managerinnen, von denen Domscheit-Berg zu Anfang sprach, so auch alle anderen, ob nun Frauen oder andere Menschen*, sollten den Anspruch der Gleichberechtigung als demokratische Bürgerschaft offensiv nach außen tragen und gemeinschaftlich daran arbeiten, Bestehendes weiterzuentwickeln, um zu wachsen. Um von einer einseitigen und konservativen feministischen Sichtweise abzukommen und nicht dem üblichen und seit den 68ern tradierten Feminismus-Schublädchen zum Opfer zu fallen, greift Domscheit-Berg die Stigmatisierung des männlichen Geschlechts auf, um auch hier Veränderungen voranzutreiben. Aussagen wie „Das Männerego steht Frauen einfach im Weg“ stützen nicht nur eine Legitimierung ungleicher Behandlung zulasten von Frauen in bestimmten Berufsfeldern, mit ihnen werden im gleichen Atemzug darüber hinaus Männer verurteilt, die sich gegen eine strikte Karrierelaufbahn und für den Erzieher- oder Pflegeberuf oder die Elternzeit entscheiden. Den Annahmen gemäß wirken Frauen, die dem Männerideal des beruflich erfolgreichen Machers und Ernährers entsprächen, als Attraktivitätskiller und müssten sich nicht wundern ihr jahrelanges Dasein als Single zu fristen. Sie seien also selber Schuld an ihrem Schicksal als Singlefrau über 40. Letzter Punkt für Domscheit-Berg eine viel zu leicht gedachte und somit eindimensionale Erklärungslogik für die heutige Beziehungskultur.

Serie Xena (1995-2001)
Meine Frage, die leider ungestellt und undiskutiert bleibt, ist an dieser Stelle, ob man heutzutage nicht von einem neuen Trend der geschlechterübergreifenden und daher möglicherweise auch von geschlechterlosen Konkurrenzrealitäten sprechen kann, beruflich, aber auch mit Blick auf die Konzeption des Selbst als Lebensprojekt im Spiegel einer Leistungsgesellschaft. Trotz aktueller feministischer Trends fehle es insgesamt doch an „vielfältigen Rollenbildern“, die heutige Lebensumstände integrieren, so Domscheit-Berg.
Studieren, reproduzieren, kooperieren.
Für die Wirtschaft sieht sie in einem intelligenten diversitysensiblen Recruiting wahre Potenziale für die Zukunft und spricht das Verfahren der anonymen Bewerbung als praktikablen Lösungsbaustein für mehr Gleichberechtigung an, das mitunter auch so seine Tücken birgt. Auch erscheint ihr der volkswirtschaftliche Ansatz der kooperativen Arbeitsteilung mit Aufhebung typischer Arbeitsbereiche als zukunftsträchtig. Statt dass Familienarbeit weiterhin als Frauensache und Erwerbsarbeit als Feld, das Männer zu beackern hätten, betrachtet werden, wäre eine sinnvolle Aufteilung nach Effizienz und der jeweiligen Ressourcenverfügbarkeit – möglicherweise gar außerhalb intergenerationaler Familienkonstellationen – sinnvoller. Das ist ein ganz logischer Schluss, zu dem sie den Abend führt und wirkt in Anbetracht ihres Auftretens nur authentisch und glaubwürdig. Domscheit-Berg appelliert an uns als Bürger*innen. Sie fordert uns auf Rückgrat zu beweisen, uns zur Wehr zu setzen und die Möglichkeit der freien Meinungsäußerung als Immunstärkung zu sehen und wahrzunehmen. All diese Auseinandersetzungen sind jedoch trotz sozialkritischer Positionierung aufgeblendet auf einen kapitalistischen Horizont, innerhalb dessen Radius sich Domscheit-Berg einmal mehr ein- (und bewusst nicht unter-) ordnet. Denn sie selber ist als Unternehmerin und Publizistin tätig, hantiert daher mithilfe des kapitalistischen Instrumentariums und verfehlt dabei zumindest in ihrer Selbstpräsentation auf der Lesung die Chance auf eine Diskussionskultur über den Systemtellerrand hinaus. Doch gerade diese Perspektive wäre beispielsweise aus der von ihr thematisierten Rolle als Elternteil – auch im Kontext ihrer beruflichen Ausrichtung – durchaus möglich gewesen. Sich dem System zu fügen und seine eigene (ökonomische) Nische in ihm zu finden, ist keineswegs ein Verbrechen, denn das machen sicherlich ein Gros aller kritisch reflektierenden Menschen und ich möchte mich nicht dieser nervigen Verurteilungspraxis oft linker Zeitgenoss*innen anschließen, da ich häufig selber Zielscheibe der Vertreter*innen jener Zuschreibungen bin (Anm.: Ihre kapitalismuskritische Einstellung hätte die Autorin deutlicher an diesem Abend anbringen können). Naheliegend ist trotzdem die Frage, ob wir jetzt alle unser eigenes Unternehmen gründen müssen, um als Frau in diesem Haifischbecken Welt zu überleben?

Quelle: giphy.com
Domscheit-Berg ist keine Heuchlerin, aber sie ist auch keine Philosophin. Ihre Thesen sind anwendungsorientiert und nicht das Werk einer verkopften Zeitgenossin. Vorbildlich ist ihr vielseitiges ehrenamtliches Engagement in puncto Gleichberechtigung, welches eindeutig über eine berufliche Verwertbarkeit in Rückkopplung zur eigenen Karriereleiter hinausgeht. Und an diesem Punkt hat sie mich: Sie fängt mich ein mit ihrer nüchtern realitätsnahen Art und beeindruckt mich nebenbei noch nachhaltig, indem sie den männlichen Blick der Paläontologie als neue Wissenschaft des 18. Jahrhunderts reflektiert. Sicher für viele keine Neuheit, aber für mich davor ein blinder Fleck und daher ein interessanter Link, da hier deutliche Parallelen zur Medizin auszumachen sind. Von Wegen Männer als Jäger und Frauen als Sammlerinnen, klare Arbeitsteilung nach Geschlechtern.
War Sisyphos ein Mann?
Ich vertrete vieles von dem, was sie anspricht und alleine das Ansprechen des oft strukturell Nichtausgesprochenem ist es wert ihr Buch zu lesen. Jedoch geht es mir persönlich nicht weit genug auf sprachlicher und perspektivischer Ebene. So eignet sich das Buch allem voran doch für eine aufgeschlossene Mainstreamleserschaft, die sich gerne, aber bitte gediegen friedlich und klug mit dem Thema Geschlechtergleichheit auseinandersetzen will und unter dem Begriff Feminismus sicherlich auch noch eine konservative Vorstellung vertritt. Auch ist das Buch sicher keine nährende Lesefrucht für Menschen*, die sich bereits (wissenschaftlich) in die Tiefe begeben haben und nicht bloß die Ungleichbehandlung von Frauen, sondern auch von anderen Minderheiten und darüber hinaus das dichotome Geschlechtermodell als soziale Konstruktion verstehend in Frage stellen.

Serie Clarissa (1991-1994), Quelle: giphy.com
Der Kapitalismus benötigt Abgrenzungskategorien, um Fortschrittmotivatoren zu kreieren und uns dahin zu lenken am Ball zu bleiben. Deshalb werden in so einem System auch Überlegungen zum Thema Gleichberechtigung nicht nur mit Blick auf das Geschlecht, sondern auch auf andere Determinanten eine Sisyphusarbeit, die wir wohl aufgrund der Tatsache fehlender funktionstüchtiger Alternativen des Wirtschaftens und Zusammenlebens unser Leben lang zu leisten haben. Konkludierend hierzu erscheinen mir unsere steinzeitlichen Vorfahren plötzlich so fortschrittlich, dass ich mich für die Entwicklung der letzten Jahrtausende mit besonderem Fokus auf die letzten dreihundert Jahre fast schäme. Es nutzt ja alles nichts. Sei ein Rambo, oder sei ein Einhorn, das ist die Devise.
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