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  • AutorenbildJules Cachecoeur

MEIN ERSTES MAL IN MAGDEBURG.

Vor einer Woche hatte ich mein erstes Mal: Online-Dating in Magdeburg. Und meine Erkenntnis: Das ist in Magdeburg, genauso wie anderswo,  eine Aktivität, die gemacht wird, aber über die am liebsten niemand in der Öffentlichkeit spricht. Peinlich berührte Blicke werden verteilt, wenn man in einer geselligen Runde mit diesem Thema um die Ecke kommt und sich dann noch mit seiner zehnjährigen Karriere im Online-Dating als vollkommener Nerd outet. Was ist denn los mit euch? Kommt schon, ihr tut es doch auch.


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Quelle: giphy.com


Ihr erinnert mich an die anonyme Gruppe von Menschen, die Helene-Fischer-CDs kauft, aber nicht dazu steht – mal ganz von den Umsätzen abgesehen, die die gute Dame mit dem Verkauf ihrer Musik macht. Entschuldigt, aber ich habe schon oft erlebt, wie ihr an der roten Ampel in eurem Sportwagen sitzt und den Kopf auf und ab bewegt zu „Atemlos“. Da schämt ihr euch doch auch nicht. Aber wenn’s um Sachen Liebesleben geht, da werdet ihr plötzlich wieder zu diesen Klemmis, lasst diese typisch deutsche (?) Haltung raushängen „Nö, dit is privat, weeßte“. Zumindest ist es genauso geheim wie eure Gehaltshöhe. Ein Quatsch ist das.

Ich sag ja immer: Wenn schon, denn schon, oder?  Alles andere ist doch Rumdruckserei und pubertär. Verdrängung ist nicht gut für die Gesundheit. Und Helene Fischer steht doch auch in der Öffentlichkeit dazu, dass sie mit Florian Silbereisen liiert ist. Na bitte, die hat wenigstens n Arsch inner Hose.

Aber jetzt mal ernsthaft: Warum ist es euch eigentlich peinlich, dass ihr das macht, was alle machen? Seid ihr nicht deshalb so verklemmt, weil die Medien euch ein wirklich weltfremdes Bild von einem*r sich angemessen verhaltenden Bürger*in vorgeben, dem ihr gerne entsprechen wollt, es aber eigentlich nicht schafft? Nennt ihr den „Trieb“ in euch, der euch dazu bringt schlechte Musik zu konsumieren und oberflächliche Single-Apps zu nutzen etwa „inneren Schweinehund“, weil ihr euch dreckig und schlecht bei der Konsumption fühlt? Diese auferlegte Norm, wie ein roter stromgeladener Zaun, unter dem wir stetig wie unter einer Limbostange her tanzen, ist doch nicht mehr zeitgemäß.

Steh‘ doch dazu, du hörst Helene!

Ganz klar: Die Verwendung von Single-Apps ist keine Krankheit. Auch nicht in Magdeburg. Und deshalb sind auch zig Leute unterwegs bei LOVOO, während Tinder hier verkommt. Woran das liegt, habe ich noch nicht herausfinden können. Vielleicht an der fehlenden Radar-Funktion? Ist ja aber auch ein nettes Gadget, obwohl ich eher Angst bekomme, wenn ich weiß, dass der Typ, den ich letzte Woche gedatet habe in diesem Augenblick nur 200 Meter von mir entfernt ist, während ich mich mit meiner Jogginghose, einem verwahrlosten Zopf und einem entzündeten, unappetitlich aussehenden Auge in meinem Bett befinde und Schokopudding verdrücke. Nein, ich möchte an diesen Mann heute nicht denken.


The Simpsons marge simpson lisa simpson season 15 episode 5


Quelle: giphy.com

Nicht nur die kräftigen Jungs von McFit, die kleinen Checker vom Hassel oder die minderjährigen Bübchen aus der Sekundarstufe 1 (entschuldigt der vielen aufgegriffenen Klischees, ich kenne diese Leute gar nicht) präsentieren sich bei LOVOO, sondern auch die Mediziner, die Banker, die Wissenschaftler, die Künstler, die Manager. Im Grunde sind alle gleich bzw. alles Opfer, wie es nach Richtschnur der Medien lauten würde. Denn im Grunde verstößt diese heterogene Gruppe an LOVOO-User*innen, genauso wie alle anderen Online-Dating-Aktiven, gegen diese Norm. Das romantisierte Bild eines Liebespaares, das sich aus der Obstabteilung beim gemeinsamen Griff nach dem gleichen Apfel, am Arbeitsplatz oder durch den Freundeskreis kennenlernte, ist ja schön und gut, ist mir aber noch nie passiert (mal davon abgesehen, dass ich meinen Arbeitskollegen nicht zu nahe treten will, aber sie sind eher Comicfiguren als potenzielle Partner). Tja, in den meisten Fällen ist das doch recht profan: Man begegnet sich eben auch virtuell und das könnte beispielsweise genauso zufällig schicksalhaft und romantisch von den Medien interpretiert werden. Wird es aber nicht. Online-Dating ist immer noch keine Tugend, so wird es doch oft in eine komische Schmuddelecke gerückt. Schneller Sex und Oberflächlichkeit, Frauen gehen ein und aus, man kann sie sich bestellen wie eine Pizza.

„LOVOO ist das neue Tinder“ entspricht der Annahme „Pepsi ist besser als Coca-Cola“.

Neulich hatte ich mein erstes Magdeburg-Date. Ich sitze mit einem gut situierten Mittdreißiger-Mann auf ein (für ihn) Feierabendgetränk in einem Café in der Magdeburger Altstadt und spreche mit ihm über genau dieses Phänomen. Und durch das, was er sagt, stellt er eine ganz interessante Situation in unserem Gespräch her. „Warum sollte ich mich dafür schämen, dass ich LOVOO nutze, wenn ich mich mit dir treffe und von dir weiß, dass du es auch nutzt und wir deshalb heute eigentlich auch nur hier gemeinsam sitzen können?“ Ich erinnere mich an meine letzten sechs Tinder-Dates, bei denen mir erzählt wurde, dass ich die erste Frau sei, die sie über Tinder träfen. Schon klar. Ich bin etwas ganz Besonderes.


george clooney eye roll


Quelle: giphy.com

Das sind Momente, in denen ich gerne aufstehen und sagen würde: Mensch, nimm mich doch bitte mal ernst. Wir sind beide erwachsene Menschen und ich bin auch keine Jungfrau mehr, na und?!

Zurück zu meinem ersten Magdeburg-Date: Erst einmal cool, was er für ein Image seiner selbst entwirft, aber ich als skeptischer Mensch muss da natürlich weiter bohren. „Und warum LOVOO, sag‘ mal?“ Bewusst verwirke ich subtil das Schmuddelimage von Online-Dating in diese neugierige Formulierung, um ihn bezüglich seines Verklemmtheitsfaktors auf die Probe zu stellen. Er reagiert ganz cool und liefert gute Argumente: mangelnde Zeit durch die berufliche Tätigkeit, große Auswahl an Frauen, unproblematische Kontaktaufnahmen, auch im Vergleich zu einem abendlichen Ausflug in eine Bar o. ä. Joah, finde ich gut, ist rational, nüchtern und lebensweltbezogen. Aber vielleicht will er ja in Wirklichkeit doch nur schnellen Sex und steht nicht dazu? Die Verklemmtheit würde sich in dem Fall nur verschieben. So stünde man nicht nicht offen dazu, seine Liebe über das Internet zu suchen, sondern man schäme sich in diesem Fall dafür, dass man in Wirklichkeit einfach ein (um es in den m. E. nach passenden Worten des Ex-Penthouse-Chefs Kurt Molzer zu formulieren)  „richtiger Ficker“ sei. Natürlich, von seiner Seite aus kann ich seine Taktik verstehen: Er möchte es mir möglicherweise so nicht offenbaren, da die Wahrscheinlichkeit damit anstiege, mich abzuschrecken und ohne „Datingerfolg“ nach Hause zu gehen. Ich finde sein Verhalten nahezu genial, wenn es denn auf einem wirklichen Konzept beruht. Das werde ich wohl nie erfahren, denn trotz aller Begeisterung, die bis zu einem Tag nach unserem sehr kurzweilig anregenden Date über mich hereinbricht (angefixte SMS-Nachrichten gespickt mit subtilen und teilweise gratwandernden Komplimenten), nimmt alles seinen üblichen Online-Dating-Verlauf: Es ebbt ab, verfliegt wie ein intensives, aber nicht nachhaltiges Parfüm. Ich bewerte dieses erste Mal als positiv, auch wenn mein Datingerfolg in Anbetracht der weiteren Entwicklung eher enttäuschend ist.




Helene Fischer live mit “Atemlos”

Was aber ist eigentlich „Datingerfolg“? Eine Frage, die ich aktuell (noch) nicht beantworten kann. Jedenfalls komme ich nach Hause zu meiner Single-Mädels-WG und habe etwas Nettes zu erzählen. Draußen scheint die Sonne und wir gehen später aus. Ein gelungener Tag.

Was der alte Adorno schon wusste

Jedes Mal erstaunt es mich, wie offensichtlich außergewöhnlich und „mutig“ Online-Dating sei. Dabei hätte ich es, wenn man mal ehrlich wäre, doch gar nicht nötig, so oft der Tonus. Ich frage mich, was daran demütigend sein soll, dass ich mir die Männer selber aussuchen kann, mit denen ich kommuniziere. Neulich auf der Lesung des Bloggers Michael Nast, der aktuell so viel Erfolg mit seinem Buch „Generation Beziehungsunfähig“ feiert, kam zur Sprache, was mich weniger erschreckt, als vermutlich alle anderen Menschen. Tinder sei eine Art Fleischsupermarkt. Oberflächlich, menschenverachtend. Sein in meinen Augen ziemlich triftiges Argument: Ob ich jetzt in eine Bar oder einen Klub gehe und mir die Frauen*Männer dort angucke und mit meinem persönlichen Beuteschema abgleiche, ist doch das gleiche in grün, außer dass ich bei Tinder noch die Matching-Funktion habe, mit deren Leistung ich sogar davon ausgehen kann, dass mein Gegenüber mich in irgendeiner Weise ansprechend fand. Natürlich rein optisch. Was meint ihr denn? So ist das eben mit den Heuristiken des menschlichen Gehirns. Ich meine, wie lange sollte es dauern, wenn ich mir ausnahmslos jeden Mann unter dem Gesichtspunkt Partnerschaft bzw. Sexualkontakt anschauen würde? Hilfe, Überforderung.

Viel interessanter ist doch die Erkenntnis (und das ganz unabhängig von online oder real life), dass wir mit diesem Jagd-Impetus an das Kennenlernen einer*s möglichen Liebes-, Sex-, Lebenspartner*in herangehen. An dieser Stelle verweise ich gerne wieder auf Eva Illouz‘ These der Ökonomisierung der Liebe. Vermutlich hat Michael Nast – genauso wenig wie Laurie Penny wie ich jüngst herausfand – noch nie etwas von Frau Illouz gehört, aber im Endeffekt greift er ihre Sichtweise auf und macht sie verständlich für ein breites Mainstreampublikum und das ist wahrlich eine Leistung. Denn durch seine deskriptiven mikrosoziologischen Beobachtungsstudien, die er in seinen Texten widergibt, regt er zur (Selbst-)Reflexion an. Nur so besteht die Aussicht darauf, ein*e mündige*r Bürger*in zu sein, um auf das Idealbild der Aufklärung zu rekurrieren und auf die kritische Theorie zu verweisen[1]. Ich hoffe wenigstens, dass so manche*r der vielen Leser*innen seines Buches sich die ein oder andere selbstkritische Anmerkung des Autors über unsere heutige Dating- und Beziehungskultur zu Herzen nimmt. Im Grunde suchen wir eben alle doch noch immer nach dieser romantischen Liebe. Jaja. Die Medien.

„Du bist echt ne süße kleine Frau. Warum bis‘n du eigentlich Single?“

Das hat wirklich mal ein Mann zu mir gesagt. Hier in Magdeburg. Wir saßen auf einer Steintreppe, es war Nacht und wir betrunken, seine Hand erst auf meinem Oberschenkel, dann irgendwann unter meiner Strumpfhose. Wäre ich nicht betrunken gewesen, hätte ich ihn ausgelacht. Stattdessen wurde ich redselig und wollte über die Bezeichnung als „süße kleine Frau“ diskutieren, aber das ist eine andere Geschichte.

Mein perfektes nächstes Date-Szenario stelle ich mir wie folgt vor: Er, tragischer Intellektueller, auf dessen Nachttisch Bücher liegen, die nicht in der Spiegel-Bestsellerliste auftauchen, ein stilvoll gekleideter Herr mit guter Frisur, der nicht ständig erwähnt, dass er tausend Freunde in Berlin hat, sondern neben coolen anderen Dingen mit seinen Jungs zu McFit geht und dazu steht, dass er Helene Fischer hört und in seiner jetzigen Lebensphase durch die Gegend hurt, blickt mir in die Augen, kann tatsächlich etwas mit dem Begriff „Feminismus“ anfangen, scheut sich aber nicht davor im Nachhinein die Rechnung zu zahlen (ich gebe zu ebenfalls in einer heteronormativen Welt gefangen zu sein).


ingrid bergman casablanca as time goes by play it


Quelle: giphy.com

Halt! Für etwas Ernsthaftes wäre so ein selbstbewusster Typ sicher nicht die optimale Basis, nein, aber wenigstens kann man sich auf Augenhöhe begegnen. Und doch: In so einen interessanten Mann würde man sich sicher schnell verlieben. Und jetzt weiß ich auch wieder, weshalb ich Single bin.

[1] Vgl. Adorno, Theodor W. (1971): Erziehung zur Mündigkeit – Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959 bis 1969.
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