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  • AutorenbildJules Cachecoeur

Weihnachten im gebärfreudigen Alter.

Als wir Kinder waren, mein Bruder und ich, da haben wir einige Wochen vor Weihnachten immer einen Wunschzettel geschrieben. Mehrere Stunden habe ich damit verbracht dem Christkind mithilfe von mehr oder weniger abstrakten Buntstiftstiftzeichnungen zu verklickern, was es mir doch alles Schönes zu Weihnachten bringen möge.

Quelle: giphy


Magisch wurde es dann, wenn der Wunschzettel plötzlich über Nacht von der Fensterbank verschwunden war. Meine Mama hatte dann stets die einzig plausible Erklärung parat: Es wurde abgeholt. Ja, und sie habe sogar gesehen von wem. Es war ein kleines Kind, weiß gewandet, mit lockigen Haaren und Flügelchen auf dem Rücken. Natürlich glaubte ich das. Ich meine, ich war fünf. Manchmal wünschte ich mir, es wäre immer noch so einfach das Christkind postalisch zu erreichen. Doch heute verrichteten hauptsächlich die gestressten und schlecht bezahlten Männer von DHL das Weihnachtspostgeschäft. Und spätestens seit ich irgendwann die selbstgeschriebenen Wunschzettel im Küchenschrank hinter weiteren gesammelten Urlaubspostkarten von Verwandten und Bekannten unserer Familie wiederfand, war mein Glaube an ein kleines Engelchen mit goldenem Haar, das uns jedes Jahr mit Weihnachtsgeschenken versorgte, verflogen wie ein Seifenblasenschloss und damit hatte wohl auch schlussendlich meine Kindheit ein Ende gefunden, sollte man meinen. Aber wer bestimmte eigentlich darüber, wann Kindheit anfing und wann Kindheit aufhörte? Der Oberste der Spielzeuglobby? Das Jugendamt? Rousseau oder doch der liebe Gott?

Quelle: giphy


N. und ich haben uns an einem vorweihnachtlichen Abend aufgerafft und sind in die Kälte nach draußen gestapft, um uns in den Adventswahnsinn zu stürzen. Unser Ausflug endet auf dem hübschen, nachbarschaftlich organisierten Weihnachtsmarkt im Buckauer Engpass. Zwischen den zahlreichen Fressbuden und einem umherziehenden, rot kostümierten Mann mit weißem Bart, roter Mütze und schwarzer Rockermähne suchen wir etwas vergeblich nach den schönen Ständen aus dem letzten Jahr, an dem man viel selbstgemachtes Hand- und Naschwerk käuflich erwerben konnte. Gott sei Dank haben die kleinen Lädchen in der Straße geöffnet, sodass der Überhang an Fast-Food-Angeboten zumindest etwas ausgeglichen wird. Dankbar nehmen wir in der Galerie die Melodien der folkloristischen Musiker*innen wahr. Zwischen den Kunstwerken umgibt die musikalische Gruppe eine erfreute Menschentraube. Zwischenzeitlich spricht der Weihnachtsmann mit den Kindern. Wenig später am Burgerstand treffen wir wie eigentlich fast immer, wenn wir zu zweit in Magdeburg zu einer kulturellen Veranstaltung unterwegs sind, Holger. Holger, ein geschätzt Endvierziger, ist stets freundlich und aufgeschlossen, bei den besten Partys und Events am Start, immer alleine.

She’s gotta have it (USA 2017) | Quelle: giphy


Auch heute, hier im Engpass auf dem Weihnachtsmarkt. Ein Kauz, von dem man nicht viel weiß, außer dass er in der Nähe wohnt, ein breit gestreutes Interesse an der Welt hat und offensichtlich ein Einzelgänger ist. Und er hat ein Talent dazu einfach immer so aus dem Nichts aufzutauchen und auch genauso spontan wieder zu verschwinden. Während unseren Begegnungen fühlen N. und ich uns eigentlich immer etwas irritiert, da wir Holger eigentlich ja gar nicht richtig kennen, sondern ihm nur immerzu flüchtig begegnen. Im Kontrast dazu versprüht er jedoch das Gefühl, wir wären ganz schön dicke miteinander. Das sind typische Emotionen, die eine*n einholen, wenn man es mit Oberflächlichkeiten nicht so hat. Nun, und doch ist das Gefühl, was Holger in uns auslöst, weniger paradox wegen der oberflächlichen Inhalte unserer Begegnung und Unterredung, sondern vielmehr wegen einer fiktiven Vertrautheit, die de facto zwischen uns nicht existent ist. Während Holger so neben uns in der Kälte steht, sich die Lichter der geschmückten Straße in seinen Brillengläsern widerspiegeln und wir ein „Früher war mehr Lametta“ Gespräch über den diesjährigen Weihnachtsmarkt halten, merke ich, wie N. unruhig wird. Ja, es wird Zeit weiterzugehen. Langsam bewegen wir uns zurück in die Menschenmasse, um anzudeuten, dass das Gespräch nun allmählich mal ein Ende finden könnte. Holger folgt uns nur noch ein Stück bis zu einem Marktstand, an dem neben Bio-Glühwein und selbstgebackenen Spekulatius selbstgenähte Baby- und Kleinkindtextilien verkauft werden.

Quelle: giphy


Irgendetwas löst der Anblick der Babystrampler bei Holger aus. Anders kann ich mir seinen Kommentar „Na, ist es bei euch nicht auch langsam soweit?“, den er in meine Richtung losschickt, nicht erklären. Mag sein, dass er mit „es“ etwas völlig anderes meint, als das, was ich verstehe, aber in der heimeligen Szenerie des familienüberfluteten Weihnachtsmarktes interpretiere ich es in eine bestimmte Richtung. Schnell reagiere ich wie eine Pistole: „Um Gottes Willen, nein!“ Verunsichert höre ich ihn lachen und komme mir etwas schroff vor, da auch mich dieses fiktive Vertrautsein zwischen uns dreien– trotz zeitgleich empfundener Irritation – zumindest kurzzeitig in den Bann gerissen hat. Zum Glück verliert sich nach dieser Krönung einer neuen Holger-Begegnung unser gemeinsamer Weg, unsererseits gewollt und erleichtert, seinerseits nach diesem Erlebnis vielleicht auch. Ich komme zeitweilen auf den Gedanken, er habe die Weihnachtsplätzchen gemeint, die wir seiner Meinung nach planten nun zeitig gemeinsam zu backen. Auch das ändert nichts an meiner folgenden Diskussion.

Quelle: giphy


Liebes Christkind, ich wünsche mir ein Leben ohne die Meinung der anderen

Eigentlich geht es in diesem Text weniger um die anmutige Erscheinung Holgers, der nette Kauz, der ziemlich eigenartig sozialen Austausch kultiviert. Es geht mir vielmehr darum, dass es nicht das erste Mal ist, dass sich Menschen außerhalb unserer Beziehung mit normativen Anspielungen in Bezug auf unser Alter und unser Paarsein zu Wort melden. Und es ärgert mich deshalb, da ich auf privat-intimer Ebene adressiert werde.

Generell lässt sich festhalten, dass Partnerschaft und Alter wie viele andere soziale Konstrukte in gesellschaftlich gültige Codes verpackt sind. Unter Alterscodes verstehe ich kollektiv gewachsene Idealbilder, die widerspiegeln, welche Lebensweise in der jeweiligen biografischen Phase eines Individuums* als gesellschaftlich angemessen angesehen wird. Darin verwoben sind selbstverständlich auch Geschlechterrollenzuschreibungen. Ich möchte gerne erfahren, wozu wir ständig hiermit konfrontiert werden. Einem heterosexuell zusammenlebenden Paar mit Anfang 30 ist offenkundig der Code der Elternschaft zugeordnet. So zumindest meine Erfahrungen im letzten Jahr meiner Partnerschaft. Kurzum: Wenn sich eine Beziehung als stabil bewährt, wird dem Paar nach Vollzug der beruflichen Profilierung gleich das Fortpflanzungsnormativ auferlegt; entsprechend der Klaviatur des heteronormativen und romantischen westlichen Liebesverständnisses.

Quelle: giphy


Was mich an der beschriebenen Anekdote so stört, ist die Tatsache, dass sich ,Außenstehende‘ – also als Repräsentant*innen und Träger*innen normativer gesellschaftlich geteilter Konzepte – in meine und seine persönlichen Angelegenheiten einmischen, selbst wenn dies unangemessen oder nicht gefragt erscheint. Teilweise – und das ist noch empörender – stehen so manche Außenstehende diesen normativen Konzepten gar kritisch entgegen. Leben und leben lassen erklingt in meinen Ohren an dieser Stelle als Heuchelei.

Ich bekomme Kinder, wenn und wann ich das will

Holgers Kommentar ist ein Glied in einer Kette von rostigen Statements, die mir (als Frau) am laufenden Meter begegnen und die an einem Fest wie Weihnachten, das Leitbild der Familie, der heterosexuellen Paarbeziehung zum Zwecke der Gründung einer solchen Familie zelebriert und reproduziert. Warum wissen andere* mehr über die eigene Zukunft und über das „gute“ Zusammenleben mit den eigenen Mitmenschen und warum verspüren sie den Drang dazu das mitzuteilen? Warum gilt Familie als das übergeordnete und naturalisierte Ziel einer jeden zweigeschlechtlichen Partnerschaft im (um es in lebenslaufnormativen Worten auszudrücken) frühen bis mittleren Erwachsenenalter? Und was passiert, wenn man mit diesen Konventionen ganz einfach bricht, ist man dann ein schlechterer Mensch, stimmt dann etwa mit der Beziehung etwas nicht? Fakt ist, dass die Außenwelt uns des Öfteren spiegelt, N. und mich als zweigeschlechtliches Paar mit Option auf Familiengründung wahrzunehmen.

La la Land (USA 2016) | Quelle: giphy


Und das muss uns auch in aller Konsequenz auf die Nase gebunden werden. Ich frage mich, was dies bezweckt. Eine Erinnerung daran, wie man zum angepassten Bürger* wird? Weil man nochmal nachfragen möchte, ob ein Gegenüber* auch artig den Konventionen der Allgemeinheit folgt? Diese ständige Kommentierung unserer zweisamen Erscheinung mit den diversen Anspielungen auf eine mutmaßliche Elternschaft widerstrebt meines Erachtens allen freiheitlichen Errungenschaften unserer Gesellschaft. Und löst in mir eine Rebellion aus und bringt mich dazu meinen Lebenswandel kritisch zu  reflektieren, zu (re-) formulieren.

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Quelle: pixabay


Ich will mich schlussendlich lossprechen von den Meinungen anderer, die meinen zu wissen, was richtig ist für ein „gutes Leben“. Ich verachte „Man sollte“-Aussagen und finde, dass man es sich zu leicht macht, nicht weiterzugehen mit seinen Fragen nach dem „richtigen Leben“ für sich. Ich habe das Gefühl, kämpfen zu müssen dafür, der normativen Prägekraft standzuhalten und authentisch zu bleiben. Es stimmt: Ich lebe entsprechen dem Standard der binären Partnerschaft in einer Beziehung, was manch eine*r als Inkonsequenz und Heuchelei vorwerfen könnte. Vielmehr gehe ich davon aus, dass man es ein Resultat unserer heteronormativen Erziehung entlarven kann. Aus dieser recht nüchternen Einsicht schlussfolgere ich jedoch nicht, dem krampfhaft entgegenzuwirken, um Konventionen auf Teufel komm raus aufzubrechen, aber mein Anspruch an ein gutes Leben ist, auf mich zu hören, nicht auf das, was man mir aufgrund meiner äußeren Erscheinung und deren Interpretation zuschreibt. So richtig findet meine Diskussion kein schlüssiges Ende und Holger tut mir etwas leid, weil er es sicherlich gar nicht so weit treiben wollte. Wir müssten erst einmal klären, ob man überhaupt wissen kann, was man sich wirklich für ein Miteinander wünscht und ob man dabei dann nicht auch nur lediglich etwas sozial Gelerntes reproduziert (für den Fall, dass wir vom Individuum als homo sociologicus ausgehen und es daher nur in seiner sozialen Einbettung als mündig und lebensfähig betrachten).

Quelle: giphy


Zuvor möchte ich jedoch weiterhin kritisch auf gesellschaftliche Schablonen wie die von Partnerschaft, von Alter, von Geschlecht und so weiter blicken, da ich annehme auf diese Weise wenigstens in eine Richtung der eigenen Lebensweise zu kommen.

Ein Ort, an dem man alles sein kann, ohne Zwang

Am Weihnachtsabend sitze ich an dem Platz, an dem ich als Kind immer saß, in unserem Esszimmer. Ich fühle mich prompt wie in einer Zeitkapsel. Mit etwas Fantasie rieche ich die aufgekochte Milch meiner Oma, die sie für den Vanillepudding vorbereitet hat und erblicke vor mir auf dem Tisch einen weißen Bogen Papier. Aus dem Buntstiftgekrakel ist heute vielleicht mehr zu entziffern, aber meine Wünsche zu Weihnachten, die ich in diesem Brief an das Christkind richte, bleiben im Grunde ähnlich: Liebes Christkind, ich wünsche mir einen Ort, an dem Menschen friedlich und freiheitlich so zusammenleben, wie sie es sich für sich selber vorstellen. Im nächsten Moment überkommt mich ganz klar die Erkenntnis, dass ich diesen Ort bereits gefunden habe. Hier, in Magdeburg.

magdeburg
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